"Das wurde abgesagt? Na geh, wir sind dafür extra früher aus dem Burgenland zurückgekommen!" Otto Belk und seine Frau Raquel stehen vor ihrer Haustüre in der Linken Wienzeile und ärgern sich. Sie wohnen im zweiten Stock mit Blick auf jene 12.000 Quadratmeter große Fläche Beton, um die in den Bezirken rundherum gerade mächtig Bahöl herrscht.

Regelmäßig an Samstagen, seit 1977, findet auf dem schmucklosen Platz der traditionelle Flohmarkt statt, während der Woche wird er als Parkplatz genutzt. Wiens Planungsstadträtin Ulli Sima (SPÖ), in deren Zuständigkeit auch die Wiener Märkte fallen, will die Fläche umgestalten. Der Platz soll nicht nur begrünt werden, sondern auch Einkaufsmöglichkeiten bieten. Im Wahlkampf im vergangenen Herbst teilte sie auf Facebook Visualisierungen ihrer Vision: Eine "seitlich offene Markthalle" solle es werden, ähnlich dem "berühmten Borough Market" in London. Seitdem herrscht Ärger in den umliegenden Grätzeln. Vor allem dass zu den fixen Vorgaben eine Überdachung der Halle gehört, stört etliche. Viele Anrainer hätten lieber einen Park, der endlich mehr Grün für die angrenzenden Bezirke Wieden, Margareten und Mariahilf bringen würde.

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Herr und Frau Belk jedenfalls sind genervt. Eigentlich hätte heute ein Informationsgespräch des sechsten Bezirks zu den Umgestaltungsplänen und zum Bürgerbeteiligungsverfahren stattfinden sollen. Aber nun wurde die Veranstaltung kurzfristig verschoben. Die Befragung, die im Juni beendet sein hätte sollen, wird über den Sommer verlängert, lautet die Begründung für die Absage des Termins.

Beflaggte Hausfassaden

Am Geländer seines Balkons hat das Ehepaar Belk von unten gut sichtbar eine gelbe Fahne angebracht. "Freiraum Naschmarkt" ist darauf zu lesen. Die Fahne stammt von einer Bürgerinitiative, die sie drucken lässt und Anrainern zu einem Unkostenbeitrag von 30 Euro verkauft. An Fenstern oder Balkonen befestigt, sorgen die auffälligen Transparente dafür, dass die Debatte um den Naschmarkt Sichtbarkeit erhält. Mehr als ein Dutzend Fenster rund um den Naschmarkt sind bereits gelb beflaggt, auch in den Straßen rundherum gehören sie zum Stadtbild.

Ein Dach, das polarisiert. Ungefähr hier soll die "seitlich offene Markthalle" entstehen. Der Flohmarkt soll Platz haben.
Foto: Standard/Newald

"Mich stört, dass hier alles auf eine Debatte Entweder-Oder hinausläuft", sagt Belk. "Entweder Autos oder Park, entweder Flohmarkt oder Gastro, entweder Asphalt oder Wiese." Dabei müsse jeder auf seine Rechnung kommen: die Anrainer, die genauso einen Parkplatz brauchen wie einen Spielplatz für die Kinder. Und die Marktstandler, die prinzipiell nichts gegen eine überdachte Halle hätten, aber mit dem Auto zufahren wollen.

Der sogenannte Naschmarkt-Parkplatz befindet sich vom Karlsplatz kommend hinter den berühmten dunkelgrünen und fest verbauten Marktständen, wo mittlerweile statt Marktstimmung eher Gastromeile und Billigshops dominieren. Das Areal zieht sich westlich des Naschmarkts von der U-Bahn-Station Kettenbrückengasse zwischen Rechter und Linker Wienzeile bis zum Café Rüdigerhof. Das Dach soll einen Teil der Fläche betreffen.

Beim samstäglichen Flohmarktbesuch findet man hier kaum jemanden, der keine Meinung zu den Umgestaltungsplänen hätte. Fast herrscht so etwas wie Wahlkampfstimmung. Gleich beim U-Bahn-Aufgang hat sich die FPÖ unter einem blauen Sonnenschirm platziert und wirbt für den Erhalt des Status-quo. Eine Halle könne man sich an anderer Stelle vorstellen – aber nicht hier. Erst wenige Tage zuvor haben die Blauen Skizzen einer Markthalle in der Nähe des Westbahnhofs präsentiert. Die Wirtschaftskammer präferiert einen Standort im Nordwestbahnviertel.

Gelbe Fahnen als Zeichen des Protests.
Foto: Standard/Newald

Wenige Meter neben der FPÖ haben die Grünen ihren mobilen Lastenrad-Stand aufgebaut. Sie treten vehement für die Errichtung eines begrünten Parks am Naschmarktparkplatz auf und führten bereits eine Anrainerbefragung durch – mit dem Ergebnis, dass sich 80 Prozent gegen die "von Ulli Sima geplante Markthalle" aussprechen. Eine Petition der Grünen haben laut eigenen Angaben mehr als 18.000 Menschen unterzeichnet.

Michi Reichelt, Vorsitzender der Grünen im sechsten Bezirk, vermutet als Motiv für die Errichtung ein abgekartetes Spiel mit Gastronomiebetreibern. Statt nichtkommerzielle Aufenthaltsflächen zu schaffen, suche die Stadt nach Möglichkeiten, Geld zu verdienen. "Nicht umsonst haben namhafte Gastronomen in Interviews bereits bekräftigt, wie begeistert sie von der Idee sind", sagt er.

Die Markthalle ist am Flohmarkt Thema Nummer eins. Es wird diskutiert und gestritten.

Aktionismus und Aufklärung

Wieder ein paar Meter weiter hat sich unter einem gelben Schirm die Bürgerinitiative platziert, die die Fahnen anfertigen lässt. Auch hier kann man eine Petition unterschreiben. Die wichtigsten Punkte, neben der Ablehnung der Errichtung einer Markthalle: ein transparentes Beteiligungsverfahren ohne fixe Vorgaben, die Schaffung von Grünflächen und konsumfreien Zonen. Auch der vordere Marktteil, beginnend auf Höhe der Secession, brauche laut Petition politische Steuerung. Statt Souvenirshops seien regionale Frischwaren und exotische Lebensmittel gefragt.

Aus der Bürgerinitiative sind mittlerweile zwei Gruppierungen hervorgegangen, so spaltend ist die Debatte. Die Petition wurde zwar noch gemeinsam eingereicht. Aber während "Freiraum Naschmarkt" mit Flashmobs oder der Fahnenaktion mobilisiert, verfolgt "Freier Naschmarkt" einen "sachlichen, konstruktiven" Ansatz, heißt es. Auf der Webseite versammelt die Initiative Stimmen von Expertinnen und Experten.

Die Sprecher der Bürgerinitiative, Rosa Märzendorfer und Philipp Amin, selbst Anrainer am Naschmarkt, kritisieren, dass der in dieser Gegend so seltene Blick zum Himmel durch ein Dach verstellt würde: "Trotz der herumstehenden Autos versammeln sich Anrainerinnen und Anrainer hier, um abends die spektakuläre Verfärbung des Himmels zu beobachten. Familien mit kleinen Kindern kommen her, damit sie am Laufrad fahren lernen können."

Die gelben Fahnen sind bei den Anrainerinnen und Anrainern begehrt.
Foto: Standard/Newald

Einer der auf ihrer Seite aufgelisteten Experten ist Landschaftsplaner Thomas Proksch. Er fordert eine klimatologische Gesamtbetrachtung des Areals, das in einer der wichtigsten Frischluftschneisen Wiens liegt. Ihm fehlt eine programmatische Diskussion, was man an dem Ort eigentlich erreichen wolle. Die Idee einer Halle könne dabei am Schluss stehen, nicht zu Beginn. Immerhin sei eine Debatte losgetreten worden.

Proksch berichtet von internationalen Beispielen, wo vertikale Gärten für Abkühlung und Schatten in Städten sorgen. Beim MFO-Park in Zürich ranken sich Kletterpflanzen auf einer luftigen Stahlkonstruktion. Ähnliches könne man auch in Wien umsetzen.

Marktstandler gespalten

Erna Keusek kann ob all des Trubels nur den Kopf schütteln. Sie kommt nur noch unregelmäßig zum Naschmarkt. 44 Jahre lang hatte sie einen Stand am Flohmarkt. Bekannt waren ihr Mann und sie für die Blechschilder und Nummerntafeln aus aller Welt, die man bei ihnen erstehen konnte. Sie findet den Umgang mit den Standlern in den letzten Jahren insgesamt problematisch. Schon vor Corona habe man die Standzeiten aufgrund des hohen Müllaufkommens stark eingeschränkt. Durch die Pandemie kamen weitere Auflagen dazu. Statt wie in den besten Zeiten 490 Stände hatten wegen der Abstandsregeln zwischenzeitlich nur 99 Stände Platz, jetzt sind es 196. Sie sind professionellen Händlern vorbehalten.

Samstags ist am Flohmarkt viel los, in den vergangenen Monaten gab es aufgrund der Coronapandemie strenge Vorgaben.
Foto: Standard/Newald

Die Idee einer Überdachung kommt bei den Standlern unterschiedlich an. Christa Kreuter, die ihren Stand unweit des U-Bahn-Aufgangs hat, würde sich freuen, weil sie dann nicht jeden Samstag ein Zelt aufbauen müsste und auch bei Regen im Trockenen stehen könnte. Sie störe aber, dass niemand sie nach ihrer Meinung gefragt habe. Andreas Böhm, der seine Waren seit 20 Jahren auf dem Flohmarkt verkauft, steht der Begrünung kritisch gegenüber. "Wenn da Bäume und Sträucher herkommen sollen, wo haben dann noch die Marktstände Platz?", ist er irritiert.

Flohmarkt mit Abstand in Zeiten von Corona. Die Marktstandler fürchten die Zeit des Umbaus.
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Ganz schön viele verschiedene Bedürfnisse also, die es bei der Umgestaltung zu berücksichtigen gilt. Markus Rumelhart (SPÖ), Bezirksvorsteher von Mariahilf, wischt sich wohl nicht nur wegen der aufkommenden Hitze am Markt den Schweiß von der Stirn. Die Infoveranstaltung wurde zwar abgesagt, er ist trotzdem vor Ort, um ein Stimmungsbild zu erhalten. Vor einigen Woche hat er sich bereits einmal den Fragen und Sorgen der Anrainerinnen und Anrainer gestellt. Die Veranstaltung sei chaotisch abgelaufen, der Unmut groß gewesen, hört man von mehreren Seiten.

Ganz überzeugt scheint Rumelhart selbst nicht mehr von der Idee der Halle zu sein. Wobei er betont, dass es sich ja um keine Halle handle, sondern eine Überdachung. Aber fix sei ja noch nichts. Dass vor einigen Monaten bereits Skizzen an die Öffentlichkeit gingen, sei aus jetziger Sicht nicht förderlich gewesen.

Kühlender Grätzelhauptplatz

Auch Stadträtin Ulli Sima bedauert rückblickend die Veröffentlichung der Bilder. "Jetzt würde ich das nicht mehr machen, denn es gibt überhaupt keinen Entwurf", sagt sie zum STANDARD. Sie verteidigt aber die Vorgaben, das sei bei Beteiligungsprozessen üblich.

"Meine Vision ist, dass hier statt der Betonwüste ein schöner Grätzelhauptplatz entsteht, der für Abkühlung sorgt", so Sima. Sie stellt sich einen "kuratierten" Markt vor, wo eine Jury entscheidet, wer einen Stand bekommt, ähnlich dem neuen Markt im Bezirk Neubau. Angebote für saisonales Gemüse und regionale Köstlichkeiten könne es ebenso geben wie Schauküchen. Für den Rest der Fläche sei sie für alles offen: ganz viel Begrünung, Wasserspielplätze, die Bürgerinitiative wünsche sich Anrainerparkplätze – das müsse man sich alles anschauen. Der Flohmarkt soll jedenfalls erhalten bleiben. Nach Ende der Befragung werden die eingesendeten Wünsche eingearbeitet und ein Wettbewerb ausgeschrieben.

Nicht nur an den Hausfassaden, auch auf Gehsteigen findet man Hinweise des Protests.
Foto: Standard/Newald

Am Stand der Bürgerinitiative hat sich eine junge Mutter in die Schlange der Interessierten eingereiht. Sie wohnt einige Gassen entfernt im fünften Bezirk. Kommerzielle Flächen gebe es schon zu Hauf, vielmehr brauche es einen Ort ohne Konsumzwang, wo man nicht zur Geldbörse greifen müsse, um sich aufhalten zu dürfen. Die Fahne kaufe sie, um ihrem Sohn zu zeigen: "Es lohnt sich zu kämpfen, auch wenn man selbst nur einen kleinen Teil beitragen kann." (Rosa Winkler-Hermaden, 12.6.2021)