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Elfriede Jelineks Originalbeitrag zu H.C. Artmann – eine Art Liebeserklärung an den großen Poeten aus Wien-Breitensee.

Foto: Reuters/Föger

Ich habe H.C. nicht oft privat getroffen. Aber ich erinnere mich an ein paar Treffen in einer Gasse, deren Namen ich nicht mehr weiß, das war im 14. Bezirk, wo ich wohne, eine der steilen Wege, die von der 49er-Strecke abgehen. Ein Freund von H.C. hat dort gewohnt, ich erinnere mich nicht an den Namen, ich erinnere mich nie an Namen, der Freund ist auch tot. In meinem Alter sind Treffen oft schon Totentreffen. Ich weiß noch: Wir haben getrunken (ich: wenig, ich vertrage nichts) und geredet, ich weiß nicht, worüber. Das ganze war wie ein Papierschiffchen (oder ein Flieger) aus Zeit, zusammengefaltete Blätter, die man so oder so öffnen kann, Himmel und Hölle. Nein, es war alles ganz normal.

Ich habe, zumindest am Anfang meines Schreibens, von keinem Autor soviel gelernt wie von H.C. Es könnte gut sein, dass er mich überhaupt zur Literatur gebracht hat, obwohl ich schon in der Schule geschrieben habe. Was ich ihm verdanke, ist, dass man alles schreiben kann mit allem, mit allen Zutaten, und dass nichts zuviel und nichts zuwenig ist, denn alle Worte, die es gibt, stehen einem zur Verfügung. Ich würde es ein akkumulatives Verfahren nennen. Die Sprache ist irgendwo angrennt, und sie rennt weiter, etwas benommen, weil sie zu so vielen daherkommt, dass das einzelne Wort kaum Luft schnappen kann. So, weiter gehts!

Und dann stauen sie sich alle an einer Staumauer, fallen übereinander, fallen auch übereinander her, sie türmen sich an dieser unendlich hohen Mauer auf, ein Berg aus Sprache, eine Art Aufschüttung, die nicht anders kann, also sich nicht auflösen kann, weil kein Wort sich mehr bewegen kann in dieser Masse an Worten, die H.C. zur Verfügung hatte, so viele wie kein andrer. Er hat sich nicht gemäßigt, warum auch. Und ich habe sofort versucht, es ihm gleichzutun, in einem wirklich ungeheuren Befreiungsakt, dass eben beim Schreiben alles möglich ist, und auch viel davon und noch mehr davon. Schneller kommt man nicht davon. Uns gehen schon die Adjektive aus, da müssen wir nachschießen!

"How much, schatzi? Mehr!"

How much, schatzi? Mehr! Es ist schon soviel, dass man kaum atmen kann, es ist wie in einer Seuche gefangen zu sein, in der einem die Luft fehlt, weil da überall diese Wörter sind, die alles aufhalten, weil sie sich ausgerechnet hier, nur hier, aufhalten wollen. Aber H.C. schiebt immer noch in größter Gelassenheit mit seinem Sprach-Schneepflug diese Masse an Worten noch weiter zusammen. Das muss noch dichter werden, spricht der Dichter!

Hilfe, aber nein, es geht. Es geht schon noch. Da geht noch was. Da können noch Pflanzen die Erde verlassen, im Wissen, dass unter ihnen Wurzeln sind, die noch mehr von ihrer Sorte hervorbringen werden, weil sie es können, weil sie einfach da sind, als wäre Sprache aus Natur gemacht, und es ginge das alles einfach nicht anders, vor allem ginge es nie einfacher. Raus aus dem Boden!, das ist mein letztes Wort.

H.C. hätte noch viel mehr davon, Wörter, Worte, ich meine, er hätte vielleicht nichts davon. Kein Ding darf sein Geheimnis behalten, das ist schon mal sicher. Denn es muss alles gesagt werden, was geht, nicht: was man weiß. Da geht immer noch mehr. Der größte Dichter ist von uns gegangen, ich versuche es in seinem Sinn: Da geht vielleicht noch mehr. Und wenn man die Erde umgraben muss, damit diese Wurzeln Luft kriegen, bevor sie wieder austreiben. Mit Sprache ist nichts auszutreiben und nichts einzutreiben.

Da muss keiner was hergeben, denn diese Sprache gibt alles her, und von wo die herkommt, da gibt's noch mehr, und das schreibt dieser Dichter auch noch mit. Ja, vielleicht könnte man das sagen: Er schreibt alles mit, das es auch noch gibt, auch wenn wir es noch nicht kennen. (Elfriede Jelinek, 12.6.2021)