Social-Media-Königin mit Erregungspotenzial: Stefanie Sargnagel und ihre beste Freundin Mercedes (Hilde Dalik) in "Sargnagel" beim Besuch einer FPÖ-Wahlveranstaltung.

Foto: Golden Girls Filmproduktion

Am Ende der Sargnagel-Premiere in der Grazer List-Halle drängte die Zukunft in die Gegenwart – vielleicht auch nur eine mögliche Zukunft, wer weiß? Ein Kamerateam eroberte die Bühne, um unter dem Siegel der Verschwiegenheit der Darstellerin Hilde Dalik schon jetzt den Diagonale-Preis für die beste Schauspielerin zu überreichen. Dalik reagierte überrascht. War das ein "prank", ein schräger Streich, oder schon ein Manöver für die Preisgala am Sonntag, die Corona-bedingt voraufgezeichnet wird?

Egal wie die Sache ausgeht, sie passt zu diesen unaufgeräumten Zeiten. Und Hilde Dalik hätte die Auszeichnung jedenfalls verdient. Denn in Sargnagel, dem Film über Österreichs zurzeit polarisierendste Literatin (und mit ihr), ist sie gleich in einer Doppelrolle zu sehen. Einerseits spielt sie eine karrieregeile Schauspielerin, die nach der Rolle der Sargnagel lechzt, obwohl sie von deren Welt und robust-offenherzigen Sprache nichts versteht.

Andererseits begeistert sie als Mercedes, die beste Freundin der "echten" Dichterin. Ausgebrannt, mit leerem Blick und immer eine Spur langsamer als alle anderen zeigt sie, wie nah Ambition und Niederlage beieinanderliegen.

Schmäh und Widerborstigkeit

Sargnagel, inszeniert von Sabine Hiebler und Gerhard Ertl, ist ein Spielfilm, der vorgibt, ein Hybrid aus Dokumentation und Fiktion zu sein – eine clevere Mischform für einen Film, der aufs breite Publikum zielt. Tatsächlich gelingt es der Produktion über weite Strecken gut, den Schmäh und die Widerborstigkeit der Sargnagel zu treffen. Die miteingebaute Satire über die Trittbrettfahrer im Kulturbetrieb, die an ihrem Hype mitnaschen wollen, fällt jedoch etwas zu grell aus.

Der Film lässt zumindest halb die Hosen runter: Ein Film-im-Film über die Entstehung einer Künstlerinnenstudie (lose am Buch Fitness orientiert) – mit allerlei Cameos aus der Kulturbranche – trifft auf fingierte Szenen aus dem Leben der echten Sargnagel, die dem Leistungsstress mit schläfriger, oft auch angewiderter Miene entspricht.

Vor allem der Erzählstrang um Sargnagel selbst erweist sich als Glücksfall. Sie weiß locker mit der Kamera zu interagieren, kein Idiot und schon gar kein Karrieresprung locken sie aus der Reserve, und im trockenen Abliefern von One-Linern hat sie eindeutig Routine. Wie sie dennoch gezwungen ist, sich unentwegt selbst als Kunstfigur zu produzieren, zeigt der lohnendste und lustigste Teil des Films.

Verleihideen gefragt

Premieren sind bei dieser verschobenen Diagonale auch deshalb in der Überzahl, weil der Kinobetrieb monatelang stillgestanden ist. Wie man mit dem daraus entstandenen Stau umgehen soll, war nicht nur bei einer Branchendiskussion Thema. Dass auf der Verwertungsebene, in der Distribution und im Verleih, dringend neue Initiativen gefragt sind, ist ein altes Thema, die Pandemie hat es dringlicher denn je gemacht. Noch immer klammern sich viele an klassische Kinostarts, dabei wären flexiblere, kurzfristigere Verwertungsformen vonnöten.

Gerade was den Nachwuchs anbelangt, zeigt das Grazer Festival auf, dass man diesem auch abseits des Festivalbetriebs zu mehr Sichtbarkeit verhelfen sollte. Nicht wenige dieser Filme lassen üppiger ausgestattete Produktionen alt aussehen.

Sebastian Brauneis dreht seine Spielfilme etwa mit Minibudgets im fünfstelligen Bereich. Nicht dass man diese Einschränkungen 1 Verabredung im Herbst, seinem Liebes- und Trennungsreigen, nicht auch ansehen könnte. Ja, die Erzählung ist zu ausufernd, der Musikeinsatz zu exzessiv. Doch Brauneis zeigt eine Lust am Regelbruch bei Auflösungen, eine Direktheit im Umgang mit Darstellern, die sich spürbar aus Tatendrang speist. Solche Impulse bringen auch Erneuerung.

Mann mit Gefühlen

Aus dem Umfeld der Wiener Filmakademie kamen zwei Dokumentarfilme, die zu den Entdeckungen dieser Diagonale gehörten. Soldat Ahmet von Jannis Lenz ist das Porträt eines türkischstämmigen Mannes, der nur auf den ersten Blick ein stereotypes Männlichkeitsbild erfüllt: Sanitäter beim Bundesheer mit Passion für den Boxsport. Doch Lenz schaut nicht auf die harte Schale, sondern darunter: In einem fast schon elegischen Tonfall erzählt er von einem Mann, der sich seinen Gefühlen stellen will. Das ist anrührend und so pointiert wie verhalten gefilmt.

Highfalutin dagegen ist eine persönlich gehaltene Reminiszenz an den 2020 verstorbenen Fassbinder-Schauspieler Volker Spengler. Für Hans Broich, den jungen Regisseur, gehörte dieser zur erweiterten Familie. Der Film hat einen einzigen Schauplatz, eine Kneipe in Berlin, in der Spengler noch selbst mit Freunden und Weggefährten zusammensitzt. Unzählige Anekdoten und Witze, alles verbindet sich kreuz und quer in einer Dramaturgie, die den Verlauf eines bierseligen Abends imitiert – und ein großer Unangepasster gewinnt dabei immer plastischere Züge.

Von Sargnagel zu Spengler – das ergab auf der Diagonale eine schöne Allianz von Künstlern, die durch ihre Unverblümtheit schockieren. (Dominik Kamalzadeh, 11.6.2021)