Sein Traum ist es, Angela Merkel und Fußballstar Ronaldo auf der Straße tanzen zu sehen. Mahdi Karera weiß, der Traum wird wahr werden. Alles, was er dafür braucht, ist Müll: ein wenig Karton, Plastik, Drähte, Fäden. Mahdi ist Puppenspieler. Er lebt in Gaza. Wer in Gaza lebt, darf die Welt nicht bereisen, und die Welt kommt auch nicht hierher. Wenn die deutsche Kanzlerin also nicht nach Gaza kommt, "dann hole ich sie eben hierher", sagt der 42-Jährige.

Als vor einem Monat die ersten Bomben auf Gaza fielen, drückte Mahdi in seinem Traum die Pausetaste. Er saß zu Hause, die Puppen lagerten im Theater. "Ich dachte: Wenn ihnen etwas zustößt, dann drehe ich durch."

Mahdi kennt den Krieg. Oder besser gesagt, er kennt nichts anderes. "Ich wurde 1979 geboren, meine Generation hat nie im Frieden gelebt", sagt er. Dieses Mal dauerte es elf Tage. Elf Tage lang bombardierte die israelische Armee Gaza, während die islamistischen Gruppen über 4000 Raketen auf Israel feuerten. "Normalerweise packe ich meine Sachen und ziehe zu Freunden ins Stadtzentrum", erzählt er. Dort sei er geschützter als in seiner Wohnung nahe der israelischen Grenze. Doch diesmal war es anders. Die Bomben fielen auch in der Mitte der Stadt.

Die Zerstörung in Gaza-Stadt war nach den israelischen Luftangriffen groß.
Foto: APA/AFP/Mahmud Hams

Recycelte Trümmer

In der zentralen Al-Wehda-Straße reiht sich Geschäft an Geschäft. In den Auslagen glitzern teure Parfüms und Smartphones, die sich kaum jemand leisten kann. Zwischen den Hochglanzfassaden klafft eine riesige Lücke, gefüllt mit Schutt. Aus dem Geröll ragen Schubladen, Aktenordner, ein verbeulter Standcomputer hervor. Der Trümmerberg war bis vor kurzem ein Hochhaus, darin hatten Kliniken, Büros und Anwaltsfirmen ihren Sitz an nobler Adresse, die jetzt keine mehr ist. Es ist eines von drei mehrstöckigen Gebäuden, die bei einem Luftangriff am 16. Mai zerstört wurden, 42 Menschen wurden dabei laut palästinensischen Angaben getötet.

Vor dem Trümmerberg steht ein Lastwagen. Auf seiner Ladefläche türmen sich verstaubte Klomuscheln. Arbeiter haben sie aus den Trümmern geholt. Jetzt sind die Arbeiter damit beschäftigt, Stahlteile auf der Straße auszubreiten. Es sind Gerüststangen, die das Hochhaus gestützt hatten. Als der Bau in sich zusammenfiel, verbogen sie sich zu den seltsamsten Formen. Jetzt liegen sie da, wie moderne Kunst. Sie warten auf Wiederverwertung. Stahl ist knapp in Gaza, jeder Draht wird recycelt.

Die Aufräumarbeiten nach den Angriffen vom Mai dauern in Gaza-Stadt noch an. Jeder Draht wird recycelt.
Foto: imago images/ZUMA Wire/Ahmed Zakot

Baustoffe, Handys, Dünge- und Desinfektionsmittel: Israel drosselt die Einfuhren nach Gaza. Es gibt strenge Quoten, oft reichen sie nicht aus. Jeden Tag gibt es 14 Stunden Stromausfall, es fehlt an Treibstoff fürs Kraftwerk. Israel hält Gaza knapp, um zu verhindern, dass die Hamas Baustoffe für den Raketenbau abzweigt. Nun fehlt es zwar den Menschen an allem, doch die Raketenlager sind besser gefüllt denn je.

Alle paar Tage stellen die Kämpfer der Hamas ihre Kampfkraft auf der Straße zur Schau. Auch heute findet eine Parade statt. Auf einer stark befahrenen Straße posieren junge Männer in Uniformen auf Militärfahrzeugen, halten ihre Waffen in die Luft. Am Straßenrand hüpfen Kinder auf und ab, betteln um Fotos mit den Helden. Jedes Jahr rekrutiert die Hamas hunderte neue Kämpfer, bildet sie in Trainingscamps aus. Da zwei von drei jungen Menschen in Gaza keinen Job und keine Perspektive haben, ist für Nachwuchs stets gesorgt. "Die miserable wirtschaftliche Situation ist das beste Rezept für Terrorismus", sagt ein Politikwissenschafter aus Gaza-Stadt, der nicht genannt werden will.

Trauma als Volkskrankheit

In einem hellen Raum im Obergeschoß des "Gaza-Gemeinschaftszentrums für seelische Gesundheit" sind die Regale voll mit Puppen, Malzeug, Bauklötzen und Musikinstrumenten. Kinder sprechen, tanzen und spielen sich hier ihre Ängste vom Leib. In Gaza seien posttraumatische Beschwerden so etwas wie eine Volkskrankheit, sagt Yasser Abu Jamei, der Leiter des Zentrums, das Therapien und Psychopharmaka für Kinder und Erwachsene anbietet. Jeder einzelne Gaza-Krieg hat seelische Narben hinterlassen, sagt der Arzt, "aber dieses Mal war besonders schlimm".

Die Luftangriffe "trafen auch ins Herz der Stadt", sagt er. Das erzeugte das Gefühl, "nirgendwo wirklich sicher zu sein". Zudem dauerten die Angriffe länger als zuvor. "Bis zu 40 Minuten nonstop Beschuss – das gab es vorher nicht", sagt Abu Jamei. Vor allem aber sind die Menschen ausgezehrt: "14 Jahre Blockade, vier Kriege, ein Jahr Pandemie – die Leute sind erschöpft, sie können nicht mehr."

"Jeder einzelne Gazakrieg hat seine Narben hinterlassen, aber dieses Mal war besonders schlimm."

Seit knapp drei Wochen ist Waffenruhe. An allen Ecken der Stadt hängen ägyptische Fahnen. Kairo zieht die Fäden, schickt Bagger und Ingenieure, dirigiert die Verhandlungen über einen Waffenstillstand. Dass er diesmal länger andauern wird, glaubt niemand, nicht in Israel und nicht hier.

"Wir haben kein Interesse an einer Eskalation", sagt ein Hamas-Sprecher. Dass die Hamas vor einem Monat Raketen Richtung Jerusalem abfeuerte, liege in Israels Verantwortung. "Israel wurde gewarnt: Ihr spielt mit dem Feuer." Das sei kein Krieg, der mit Sieg oder Niederlage ende. "Es ist ein Ringen, und es geht darum, in verschiedenen Kampfrunden Punkte zu machen."

Aus Sicht der Hamas wäre alles "sehr einfach zu lösen": Israel müsse nur die Gaza-Blockade und die Besetzung des Westjordanlands und Ostjerusalems beenden. Würden die Islamisten in Gaza dann auch Israels Existenzrecht anerkennen? "Dieses Land gehört uns Palästinensern", sagt der Sprecher. "Warum sollen wir den Preis für Verbrechen bezahlen, die Deutschland und Österreich begangen haben? Sie sollten den Preis bezahlen, nicht wir."

"Kein Krieg wird der letzte sein. Mit diesem Gefühl leben wir ständig, aber wir können hier nicht weg."

Nicht alle unterstützen diese Linie in Gaza. "Sie haben diesen Krieg wegen Jerusalem provoziert", sagt ein 50-Jähriger, der anonym bleiben möchte. "Jetzt haben in Gaza tausende Menschen ihre Häuser verloren, weil ein paar Familien in Jerusalem vor der Zwangsräumung stehen. Und das soll logisch sein?"

Kein Ende in Sicht

Dieses Mal haben Mahdis 30 Marionetten überlebt. Das Gebäude neben dem Theater wurde beschossen, doch das Theater selbst blieb heil. Das Schlimmste, meint der Puppenspieler, sei nicht der Krieg selbst. "Das Problem ist, dass es immer so weitergehen wird. Kein Krieg wird der letzte sein. Mit diesem Gefühl leben wir ständig, aber wir können hier nicht weg."

Mahdi befürchtet, dass auch die jüngste Generation es nicht besser haben wird. Den Kindern zuliebe hat er sein Projekt verschoben. Merkel und Ronaldo müssen noch auf ihren Auftritt warten. Vor ihnen kommt jetzt einmal Spider-Man dran. Mit einer Menschenrechtsorganisation hat er im Rathaus einen Theaternachmittag organisiert, für die Kinder in Gaza-Stadt, die dieses Jahr das Ramadan-Ende im Bombenlärm verbringen mussten.

Wenn Mahdi sich etwas wünscht, dann ist es die Freiheit, zu reisen. "Ich will nicht auswandern", sagt er, "ich liebe Gaza." Aber an Theaterfestivals teilnehmen, Freunde im Ausland besuchen – davon träumt er jetzt. "Vor kurzem schrieb mir ein Bekannter aus Deutschland, ich solle ihn doch mal besuchen", sagt Mahdi. "Dass wir nicht wegkönnen von hier, hat in seiner Vorstellung keinen Platz." (Maria Sterkl aus Gaza-Stadt, 13.6.2021)