In Österreich leben rund 230.000 Menschen, die hier geboren wurden, aber keinen österreichischen Pass haben.

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Das Thema Staatsbürgerschaft erhitzte am Wochenende weiter die Gemüter in Österreichs Innenpolitik. Die SPÖ wolle mit ihrer Forderung nach einem leichteren Zugang "eine neue Wählerschaft" schaffen, schrieb ÖVP-Klubobmann August Wöginger am Sonntag in einer Aussendung. Der stellvertretende Landeshauptmann Oberösterreichs, Manfred Haimbuchner (FPÖ), forderte, ganz im Gegensatz zu den SPÖ-Vorschlägen, dass 25 Jahre Aufenthalt für einen Anspruch auf die Staatsbürgerschaft Voraussetzung sein sollten.

In den vergangenen Tagen war immer wieder die Rede davon, dass das österreichische Einbürgerungsrecht eines der restriktivsten weltweit sei. DER STANDARD hat mit zwei Experten darüber gesprochen, was das konkret bedeutet. Peter Marhold ist Jurist und Obmann der Beratungsorganisation Helping Hands, die beim Beantragen der Staatsbürgerschaft berät. Rainer Bauböck ist Politikwissenschafter mit Schwerpunkt Staatsbürgerschaftsrecht am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.

STANDARD: In den letzten Tagen hat man immer wieder gehört, Österreichs Staatsbürgerschaftsrecht sei eines der restriktivsten weltweit. Was heißt das konkret? An welchen Kriterien wird das festgemacht?

Bauböck: Das kann man einerseits festmachen an dem völligen Fehlen eines ius soli – also das Recht auf Staatsbürgerschaft per Geburt im Territorium. Zweitens am Zusammenwirken der langen Aufenthaltsdauer, die verlangt wird, der Unbescholtenheit, die in Österreich ganz besonders streng interpretiert wird, den Einkommenserfordernissen, die eine große Hürde sind, und dass man eine zweite Staatsbürgerschaft zurücklegen muss – also dem Verbot der Doppelstaatsbürgerschaft. Alles zusammen macht Österreich zu einem der restriktivsten Staaten in der EU und weltweit unter den Einwanderungsländern. Das ist aber auch politisch so gewollt.

STANDARD: Wie zeigt sich das in der Praxis? Was sind die häufigsten Hürden, wegen denen Menschen die Staatsbürgerschaft nicht bekommen?

Marhold: Grund Nummer eins ist die Unterhaltsrechnung, die extrem kompliziert ist. Es muss auf Monatsbasis nachgewiesen werden, dass im Durchschnitt von 36 Monaten aus den letzten sechs Jahren der Unterhalt ausreichend war und man nicht auf Sozialhilfe angewiesen war (der Richtsatz für Einzelpersonen liegt bei 1.000 Euro netto im Monat, Anm.). Ich habe Fälle, wo jemand zum Beispiel seine Großmutter beherbergt, die bezieht Sozialhilfe – und die Staatsbürgerschaft wird dann verweigert mit dem Argument, man sei Nutznießer der Sozialhilfe der Großmutter.

Das zweite Thema mit Abstand, aber besonders hinterhältig, ist die Abwesenheitsregel. Ich darf also in den sechs oder zehn Jahren Aufenthalt, die ich für den Anspruch auf Staatsbürgerschaft brauche, maximal 20 Prozent im Ausland gewesen sein. Da habe ich vor Jahren eine gebürtige Türkin, die seit 20 Jahren in Österreich lebte, vor allen Gerichten der Republik verloren, weil sie für ihre österreichischen Arbeitgeber einmal ein Jahr nach Brüssel und einmal zwei Jahre in die Türkei entsandt war.

Das dritte sind Verwaltungsstrafen, die eigentlich jedem passieren können. In der Praxis habe ich Fälle, wo Menschen die Staatsbürgerschaft verweigert wird, weil sie einmal einen Antrag zu spät abgegeben haben, oder zum Beispiel der Taxifahrer, der zweimal mit 70 km/h – also zu schnell – über die Wiener Reichsbrücke gefahren ist. Ja, wir wollen keine Kriminellen einbürgern, aber in der Praxis wird oft geradezu nach Verwaltungsübertretungen gesucht, mit denen man die Staatsbürgerschaft verweigern kann.

STANDARD: Macht es eigentlich einen Unterschied, ob ich die Staatsbürgerschaft in Wien oder in Vorarlberg beantrage?

Marhold: In den Bundesländern geht es deutlich schneller. Wien ist das herausragende Negativbeispiel. Offene Verfahren aus 2017/18 sind absolut keine Seltenheit.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Vorschläge der SPÖ?

Marhold: Diese Forderungen sind in so vielen Gremien und Ausschüssen weichgespült worden. Die Forderungen der SPÖ gehen in die richtige Richtung, würden das österreichische Recht aber lediglich an längst bestehende europäische Standards anpassen.

Bauböck: Die Forderungen gehen in Richtung einer Liberalisierung, was sowohl aus integrations- wie auch demokratiepolitischen Gründen zu begrüßen ist. Es wird aber beispielsweise nicht darauf Bezug genommen, dass eine der größten Hürden zur Staatsbürgerschaft für gut integrierte, lang ansässige Zuwanderer in Österreich – und zwar vor allem für jene aus der EU – die Pflicht ist, dass sie vor der Einbürgerung die alte Staatsbürgerschaft zurücklegen müssen. Die meisten Zuwanderer der letzten Jahrzehnte sind EU-Bürger, die denken aber nicht daran, sich einbürgern zu lassen, wenn sie dafür ihre bisherige Staatsbürgerschaft aufgeben müssen.

STANDARD: Gibt es einen europäischen Standard in Sachen Einbürgerung?

Bauböck: Es gibt große Unterschiede, aber durchschnittlich liegt die verlangte Aufenthaltsdauer bei fünf Jahren und nicht bei zehn Jahren. Die Einkommensgrenzen sind im Durchschnitt niedriger als in Österreich, und es wird sonst kaum wo so strikt die Zurücklegung einer zweiten Staatsbürgerschaft verlangt. Das gilt im Übrigen auch für Auslandsösterreicher: Wer die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes erwirbt, verliert die österreichische Staatsbürgerschaft.

STANDARD: Was weiß die Wissenschaft über die Effekte eines leichteren Zugangs zur Staatsbürgerschaft?

Bauböck: Die Integrationschancen sind nach der Einbürgerung besser. Das heißt, es steigen die Löhne, es sinkt die Gefahr der Arbeitslosigkeit, sie sind besser sozial integriert. In einer Studie wurde nachgewiesen, dass die Einbürgerung die Integration tatsächlich kausal beschleunigt. Eine andere Studie hat herausgefunden, dass der Effekt einer Einbürgerung auf die Integration bei einem Aufenthalt von fünf Jahren am größten ist. Wenn man sie schon nach zwei, drei Jahren vergibt, hat das weniger Integrationswirkung, und wenn man sie erst nach zehn Jahren vergibt, ist die Integration schon gelaufen – entweder erfolgreich oder gescheitert.

STANDARD: Würde ein bedingtes Geburtsrecht die Staatsbürgerschaft entwerten?

Bauböck: Das denke ich nicht. Man muss sich die Frage stellen: Was für ein Gut ist denn die Staatsbürgerschaft, worin liegt ihr Wert? In der Regel wird das so beantwortet: Staatsbürgerschaft ist ein Status der Gleichberechtigung von Individuen gegenüber dem Staat, von dem sie regiert werden. Insofern könnte man sagen, dass die Staatsbürgerschaft dadurch entwertet wird, dass ein großer Teil der Wohnbevölkerung von ihr ausgeschlossen wird.

Ein unbedingtes Geburtsrecht gibt es nur noch in Nordamerika und einigen südamerikanischen Staaten. Das hat in den USA in beschränktem Ausmaß zu einem Geburtentourismus geführt, vor allem von chinesischen Mittelstandsfamilien, die sich das leisten können.

Das muss man aber unterscheiden von einem bedingten Geburtsrecht. Es macht nämlich Sinn, die Staatsbürgerschaft an den Lebensmittelpunkt des Menschen zu knüpfen, der sie bekommt. Wenn also die Eltern bereits mehrere Jahre im Land leben, dann ist es wahrscheinlich, dass der Lebensmittelpunkt des Kindes auch das Land sein wird, in dem es geboren wird. Das gibt es in vielen EU-Staaten. Die verlangte Aufenthaltsdauer der Eltern schwankt zwischen acht Jahren in Deutschland und drei Jahren in Irland. Für Kinder, die erst nach der Geburt nach Österreich gekommen sind, könnte es wie etwa in Schweden nach drei bis fünf Jahren Aufenthalt und Schulbesuch einen Anspruch auf Staatsbürgerschaft per Erklärung der Eltern geben. (Johannes Pucher, 14.6.2021)