Gesungene Seelenkunde: Der Abschied von Octavian (Daniela Sindram) im ersten Akt schmerzt die Marschallin (sehr, sehr gut gespielt von Marlis Petersen) doch etwas.

Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Wenn ein Kleintrupp abgebrühter Musikberichterstattender mit feuchten Augen in die erste Pause des Rosenkavaliers geht, dann war die Marschallin sehr, sehr gut. Am Sonntagabend gab es reichlich feuchte Augen in der ersten Pause, der Grund, ganz eindeutig: Marlis Petersen. Die schwäbische Wahlwienerin war an der Staatsoper einst die Lulu und die Manon, in den letzten Jahren zählte sie im Theater an der Wien zu den Fixsternen. Dieses Frühjahr hat die preisgekrönte Sopranistin an der Bayerischen Staatsoper unter der Leitung von Vladimir Jurowski ihre erste Fürstin Werdenberg erarbeitet, nun also ihr Wiener Rollendebüt.

Und was soll man sagen, außer: Die Präzision ihrer Tonführung, ihrer Artikulation und auch ihre Genauigkeit des Gefühls waren einzigartig, und diese Dreieinigkeit der Perfektion stellte die Petersen in den Dienst größter Leichtigkeit. Wie die 53-Jährige in der Rolle der Fürstin singend über die Zeit, die Liebe und das Leben sinnierte – wie aus dem Augenblick heraus, bedächtig, klug und nur etwas kapriziös –, das traf die Zuhörenden ins Herz, das waren einzigartige Momente der gesungenen Seelenkunde. Da fügte es sich gut, dass die Vorstellung Christa Ludwig gewidmet war, einer einstigen Marschallin, die im April alle irdischen Possen und Tragödien für immer hinter sich gelassen hat.

Verzicht, Zeit und Jugend

Der Rosenkavalier, der Wiener liebste Opernmärchenstunde, ist eine retrophile Utopie des gelingenden Miteinanders, an deren Ende die Marschallin – in der betagten Inszenierung von Otto Schenk an Glinda, die gute Hexe des Nordens, erinnernd – generös Verzicht übt und Zeit und Jugend ihren Lauf lässt. Petersen gab am Sonntagabend Daniela Sindram und Louise Alder als Octavian und Sophie ihren Segen. Sindrams fester, tragfähiger Mezzo hatte eine rollengemäß männliche Nuance im Timbre; Alders Sopran verblüffte mit Leuchtkraft und einer körperlichen Vitalität, war aber auch zu zart-schwebenden, "himmlischen" Pianissimolinien fähig.

Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dass Albert Pesendorfer in Ton und Verhalten einen blassen, braven, behäbigen Ochs von Lerchenau gab – damit das Dreigestirn der Soprane umso heller strahlen konnte. Die Glanzlichter bei den kleineren Partien: Freddie De Tommaso war ein idealer italienischer Sänger mit edlem Schmelz, eine Leitmetzerin de luxe: Regine Hangler mit ihrem mächtigen Sopran. Aurora Marthens und Jörg Schneider ließen als Modistin und Wirt aufhorchen; wundervoll quäkend der Kinderchor im dritten Akt. Ein halbes Jahr nach der (gestreamten) musikalischen Neueinstudierung spielte das Staatsopernorchester seinen wienerischen Tonfall unter Philippe Jordans Leitung nicht übermäßig aus und ließ ahnen, wie anspruchsvoll der Dreiakter mit seiner überbordenden barocken Stimmenvielfalt doch ist. (Stefan Ender, 14.6.2021)