Wenige Wochen bevor das Ibiza-Video öffentlich wurde, war die Stimmung in der einstigen türkis-blauen Bundesregierung mehr als getrübt. Die Verbindungen der FPÖ zum hart rechten Rand wurden zur Belastung für die Koalition. Dann sprach der ehemalige Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) auch noch offen vom "Bevölkerungsaustausch". Das Wort steht für eine der zentralen Verschwörungsmythen der extremen Rechten, wonach die weißen, christlichen Europäer gezielt durch muslimische Einwanderer "ausgetauscht" werden. Damals war Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) noch um Distanz bemüht.

Der türkise Mann fürs Grobe: ÖVP-Klubchef August Wöginger.
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Knapp zwei Jahre später unterstellen politische Beobachter der ÖVP, nun genau mit diesem Begriff zu kokettieren. Vergangene Woche schlug die SPÖ vor, den Zugang zur österreichischen Staatsbürgerschaft zu erleichtern. Der türkise Klubchef August Wöginger reagierte darauf mit einer scharfen Aussendung: "Die Linksparteien wollen mittels Masseneinbürgerungen die politischen Mehrheitsverhältnisse im Land ändern." Wöginger sprach gar von einer "Entwertung" der Staatsbürgerschaft.

Andreas Peham erkennt darin zumindest ein "Blinken" der Türkisen in Richtung rechts außen. "Auch wenn die Formulierung nicht ident ist, der Gedanke ist der gleiche, der seit den 1970er-Jahren in der Neonaziszene kursiert, nach dem Motto: Tauscht die Politiker aus, bevor sie das Volk austauschen", sagt der Rechtsextremismusexperte des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW). "Interessant ist, dass das in einer Koalition mit den Grünen möglich ist, man hat eher geglaubt, dass diese Zeiten vorbei sind."

"Brandgefährlich"

Für Peham reiht sich die Aussendung in den Stil ein, den die ÖVP unter Kurz im Bereich Migration fährt. "Diese scharfen Töne gegen Muslime war man früher eher von der FPÖ gewöhnt", sagt der Experte. Das zeige unter anderem auch die Debatte um die Islamlandkarte, die schließlich durch die rechtsextremen Identitären instrumentalisiert wurde. Deren Aktivisten schwärmten aus und brachten Warnschilder vor heimischen Moscheen an.

Beifall erhält Wöginger nun auch vom Chef der Gruppierung, Martin Sellner, weil er den SPÖ-Vorschlag kritisiert. "Die Thematisierung der ethnischen Wahl ist wichtig, ganz egal, von welcher Partei es ausgeht", schreibt Sellner auf Telegram.

Aus Sicht von Peham will die ÖVP den Freiheitlichen mit ihren harten Ausritten Wähler abspenstig machen. Das möge kurzfristig funktionieren, glaubt Peham. Auf lange Sicht würden die Leute aber das Original wählen. "Was dadurch aber definitiv passiert, ist eine Diskursverschiebung, wie Kurz sie ja einmal selbst beschrieben hat, als er meinte: Vieles von dem, was ich heute sage, ist früher noch als rechtsradikal abgetan worden", sagt Peham. Bini Guttmann, Präsident der European Union of Jewish Students, hält es deshalb auch für "brandgefährlich", dass die ÖVP "Anspielungen" auf den "großen Austausch" mache, den die Identitären propagiert und FPÖ sowie AfD groß gemacht hätten, wie er auf Twitter schreibt.

Belastbare Zahlen fehlen

Davon abgesehen legt Wöginger den türkisen Gedanken dar, dass Linksparteien den Zugang zur Staatsbürgerschaft nur erleichtern wollen, um die Mehrheitsverhältnisse in Österreich zu verändern.

Der Politikwissenschafter Laurenz Ennser-Jedenastik hat sich damit beschäftigt, wie die Nichtstaatsbürger in Wien ticken. Sie machten bei der Hauptstadtwahl im vergangenen Oktober etwa ein Drittel der Wiener Wohnbevölkerung aus – sie konnten aber nicht wählen. Wem wären also die Stimmen zugutegekommen? Das lässt sich schlicht nicht präzise darstellen, sagt Ennser-Jedenastik. Es sei schwierig, an belastbare Zahlen zu kommen. Auch, weil es sich um eine Gruppe handelt, die mit Umfragen nur sehr schwer zu erreichen ist.

Man dürfte aber nie von einer größeren Gruppe an Menschen erwarten, dass sie politisch homogen ist. Auch hält Ennser-Jedenastik den Effekt des roten Vorschlags für kein "politisches Erdbeben".

Eine Frage der Mitsprache

Zunächst würden Masseneinbürgerungen nicht von heute auf morgen passieren. Und selbst wenn sich unter Nichtstaatsbürgern eine klarere politische Tendenz abzeichnen würde, handele es sich noch immer um einen Teil der Gesamtwählerschaft, sagt der Experte. In seinen vorsichtigen Berechnungen waren die Nichtstaatsbürger etwas stärker linksaffin als die Staatsbürger, aber das sei nicht repräsentativ.

Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) und Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) waren in der "ZiB2" beim Thema Einbürgerung uneins.
ORF

Für Ennser-Jedenastik geht es in der Debatte um etwas anderes: "Nämlich um die fundamentale Frage, wer mitreden darf und wie allumfassend unsere Demokratie für all jene ist, die hier wohnen", sagt er. "Es ist eine wichtige Frage, ob wir es okay finden, dass in Wien etwa ein Drittel nicht wählen darf." (Jan Michael Marchart, Fabian Schmid, 14.6.2021)