Mit Erleichterungen liebäugelt die Partei nur, wenn es ihr nützen würde, wie bei Südtiroler Doppelstaatsbürgerschaften, erläutert Stefan Brocza, Experte für Europarecht, im Gastkommentar.

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Die Hürden, einen österreichischen Reisepass zu bekommen, sind hoch, zu hoch, wird vielfach kritisiert.
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Die jüngsten Vorschläge der SPÖ zur Reformierung und Modernisierung des österreichischen Staatsbürgerschaftsrechts führten umgehend zu einer wütenden Diskussion darüber, ob damit nicht klammheimlich das Wahlvolk verändert würde. Oder wie es der ÖVP-Klubobmann August Wöginger in seiner sonntäglichen Aussendung formulierte: "Die Links-Parteien wollen mittels Masseneinbürgerungen die Mehrheitsverhältnisse im Land ändern."

Abgesehen von der damit natürlich verbundenen parteipolitischen Polemik muss man Wöginger zugestehen, dass er mit seinem Befund gar nicht so falsch liegt. Denn jenseits von Umfragen und so manch anderen Versuchen, das potenzielle Wahlverhalten von in Österreich lebenden Ausländerinnen und Ausländern vorherzusagen, gibt es auch Wahlen, bei denen man ganz genau weiß, wie sie gewählt haben: die Wiener Bezirksvertretungswahlen. Bei diesen sind bekanntlich EU-Bürgerinnen und -Bürger stimmberechtigt. Aufgrund einer Besonderheit des Wiener Wahlverfahrens werden diese Stimmen gesondert ausgezählt. Vergleicht man deren Ergebnis mit den Stimmen der Inländerinnen und Inländer wird jedenfalls rasch klar, warum Wöginger so hysterisch auf die SPÖ-Vorschläge reagiert.

Schlechtes Abschneiden

Bei den Wiener Bezirksvertretungswahlen im Oktober 2020 waren rund 230.000 EU-Bürgerinnen und -Bürger stimmberechtigt. Beim Wahlergebnis lagen die Neos bei den EU-Bürgerinnen und -Bürgern mit 8,2 Prozent klar über ihrem Stimmenanteil bei den österreichischen Wählerinnen und Wählern (6,5 Prozent). Der Stimmenanteil der Grünen war mit 36,7 Prozent gar mehr als doppelt so hoch wie bei den inländischen Wählerinnen und Wählern (17,3 Prozent).

Diesmal schlechter abgeschnitten hat bei den "Europäern" die SPÖ: Sie erreichte bei der Bezirksvertretungswahl bei den Inländerinnen und Inländern 38,2 Prozent, bei den EU-Bürgerinnen und -Bürgern aber nur 28,9 Prozent. Bei früheren Wahlgängen zählte die SPÖ noch zu den Gewinnern bei den EU-Stimmen. Noch schwächer, ja direkt katastrophal fällt der Vergleich jedoch bei ÖVP und FPÖ aus, die hier gar nur die Hälfte ihres "Inländerergebnisses" schafften: Die ÖVP bekam 11,1 Prozent (im Vergleich zu 20,7 Prozent) und die FPÖ nur 3,8 Prozent (acht Prozent bei den Inländerstimmen).

Keine Bedenken

Geht man davon aus, dass diese EU-Bürgerinnen und -Bürger nach einer möglichen Einbürgerung nicht automatisch ihre politische Gesinnung ablegen, könnte man erwarten, dass Nichtösterreicher, die in Österreich wählen dürfen, tendenziell ihre Stimme dem ominösen "linken Lager" geben. Deshalb – und nur deshalb – auch das laute Geschrei der ÖVP. Wäre es nämlich anders und wären potenzielle "Neubürger" als ÖVP-Wählerinnen und -Wähler zu generieren, hätte man damit überhaupt kein Problem. Das zeigen die damaligen Ankündigungen der türkis-blauen Bundesregierung, die österreichische Staatsbürgerschaft an Südtirolerinnen und Südtiroler zu verleihen.

Das Regierungsprogramm der ÖVP-FPÖ-Bundesregierung sah vor, ein paar Hunderttausend Italienerinnen und Italiener kurzerhand zu österreichischen Doppelstaatsbürgerinnen und -bürgern zu machen. In Österreich regte das damals niemanden wirklich auf. Im Weihnachtrubel 2017 ging wohl unter, dass damit rund eine halbe Million privilegierter Neu-Österreicherinnen und -Österreicher geschaffen werden sollten: eine halbe Million potenzielle Doppelwählerinnen und -wähler – wahlberechtigt für die Parlamente in Rom und in Wien –, mit vollem und uneingeschränktem Zugang zum österreichischen Sozialsystem; wobei sie ihre Steuern wohl auch weiterhin in Italien entrichtet hätten. Hier gab es jedenfalls keine Bedenken gegen "Masseneinbürgerungen", die zu einer "neuen Wählerschaft" führen könnten.

Offensichtlich ist es doch etwas anderes, wenn man potenzielle ÖVP-Wählerinnen und -Wähler "heim ins (Öster)Reich" führt – lag der Stimmenanteil der Südtiroler Volkspartei bei den letzten Landtagswahlen doch immerhin bei beachtlichen 42 Prozent. Die von Wöginger in seiner jüngsten Sonntagsaussendung verteufelten "Links-Parteien" konnten im strukturkonservativen Südtirol politisch jedenfalls nie wirklich Fuß fassen.

Eine Notwendigkeit

Als Folge der Abschiebungen nach Georgien zu Jahresbeginn hat die Diskussion im Land insbesondere rund um das sogenannte Ius soli, also das Geburtsortsprinzip, wonach ein Staat seine Staatsbürgerschaft an alle Kinder verleiht, die auf seinem Staatsgebiet geboren werden, in Österreich erneut Fahrt aufgenommen. Dass es sich dabei jedenfalls um ein über den Anlassfall hinausgehendes Problem handelt, zeigen Zahlen der Statistik Austria, wonach mehr als 220.000 in Österreich geborene Menschen bislang nicht die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten haben.

In diesem Licht betrachtet, waren die SPÖ-Vorschläge längst überfällig. Eigentlich hätte man sie von einer verantwortungsvollen Regierung und nicht von einer Oppositionspartei erwarten dürfen. Wer jedoch ausschließlich parteipolitisch denkt, kann und will offensichtlich die staatspolitischen Notwendigkeiten nicht sehen. Stattdessen verschickt er Aussendungen und warnt vor einem "Linksruck". (Stefan Brocza, 15.6.2021)