Der Fall wurde vor der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verhandelt. Bis dato geschah das in Causen, die Österreich betrafen, erst viermal.

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Straßburg/Wien – Heute, Dienstag, wird ein Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) erwartet, das zu Änderungsbedarf bei den in Österreich bestehenden Maßnahmen gegen innerfamiliäre Gewalttäter führen könnte.

Möglichweise wird aber auch alles beim Alten bleiben – wie bei der ersten Entscheidung des Europarat-Höchstgerichts im Juli 2019 zu dem Fall. Damals hatte eine kleine Kammer des EGMR keine Verfehlungen bei Polizei und Behörden erkannt.

Das hatte zu Kritik von einer Reihe von Expertinnen und Experten geführt. Die Causa wurde der Großen Kammer übertragen. Dem Vernehmen nach beschäftigt sich diese zum allerersten Mal mit einem Fall schwerer Gewalt in Beziehungen.

Sohn in den Kopf geschossen

Entschieden wird heute über den Antrag einer Frau, deren Sohn vor neun Jahren vom Vater durch einen Schuss in den Kopf getötet wurde. Der Mann hatte den Achtjährigen und seine siebenjährige Schwester am 25. Mai 2012 mittels eines Vorwands aus deren Klassen in einer St. Pöltner Volksschule geholt und in die im Keller gelegene Garderobe gelotst.

Dort zückte der 37-Jährige die Waffe, die er davor illegal erworben hatte, und schoss. Die Tochter konnte flüchten, der Vater fuhr mit dem Auto davon und erschoss sich später im Wagen.

Der Fall erregte großes Aufsehen. Nicht zuletzt wurde die Staatsangehörigkeit des Täters – eines seit langen Jahren in Österreich lebenden Türken – hervorgehoben.

Hohes Tatrisiko

Das Tatrisiko in den Tagen davor sei immens gewesen, bringt die Anwältin der Frau, Sonja Aziz, vor. Polizei und Gericht hätten davon gewusst. E. Kurt habe seine Frau und Kinder mehrfach mit dem Umbringen bedroht. Die Spuren der letzten Prügel seien bei ihnen noch sichtbar gewesen.

Doch niemand habe das Leben des Buben ausreichend geschützt, etwa durch Inhaftierung des Vaters wegen Tatbegehungsgefahr. Dadurch habe sich die Republik einer Verletzung der Artikel zwei, drei und acht der Europäischen Menschenrechtskonvention – Recht auf Leben, Verbot der Folter, Recht auf Familienleben – schuldig gemacht.

Scheidung eingereicht

Tatsächlich hatte die Frau drei Tage vor der Tat die Scheidung von ihrem Mann eingereicht; während einer Trennung ist die Übergriffsgefahr durch einen gewalttätigen Partner bekanntermaßen besonders hoch.

Zum Scheidungsentschluss hatte sie sich nach jahrelangen Übergriffen durch ihren Mann durchgerungen: 2010 waren über E. Kurt ein Betretungsverbot und eine Wegweisung zum Schutz vor Gewalt ausgesprochen worden. Am 10. Jänner 2011 war er wegen Körperverletzung und schwerer Drohung zu drei Monaten bedingter Haft verurteilt worden.

Replik der Republik

Es gebe in Österreich keine Präventivhaft, brachte die Republik durch ihre Vertreter – neben einem Beamten aus dem Bundeskanzleramt etwa Delegierte des Innen- und Justizministeriums – in ihrer Replik vor. Auch hätten die Behörden kurz vor der Tat nicht gewusst, dass sich Frau und Kinder in akuter Gefahr befanden. (Irene Brickner, 15.6.2021)