Die Spieler der belgischen Nationalmannschaft knieten nieder, die russischen Gegner schauten zu. Fans im Stadion von St. Petersburg pfiffen.
Foto: EPA

Es ist eine Aktion unmittelbar vor dem Anpfiff der Fußballmatches, die bei der Euro für Diskussionen sorgt. Spieler und Schiedsrichter knien einige Sekunden auf dem Rasen. Ein Zeichen gegen strukturellen Rassismus, auf das andere verzichten. "Meine Spieler wissen, dass sie etwas bewegen können", sagt Englands Nationaltrainer Gareth Southgate. Sein russisches Pendant Stanislaw Tschertschessow meint auf die Frage, wie er den Kniefall der Gruppengegner aus Belgien bewerte: "Das ist keine Frage, die mit Fußball zu tun hat. Wenn Sie eine haben, stellen Sie mir dazu eine." Vom Publikum in der russischen Arena waren Pfiffe und Buhrufe zu vernehmen, so wie einen Tag später in London.

STANDARD: Wo hat der Kniefall als politisches Zeichen seinen Ursprung?

Wachter: Es gibt Fotos von Martin Luther King, auf denen er mit Demonstranten kniet, um für Bürgerrechte für Schwarze zu kämpfen. Quarterback Colin Kaepernick hat es 2016 im Sport erfunden. Der Kniefall ist ein Protest gegen die strukturelle Unterdrückung von schwarzen Menschen und gegen Polizeigewalt. Die Geste ist nicht an gewisse Personen oder Institutionen gerichtet. Das wird gerne missverstanden.

STANDARD: Fifa und Uefa führen seit vielen Jahren Anti-Rassismus-Aktionen durch. Waren sie zielführend?

Wachter: Das war stets stark unternehmerisch angehaucht. Es gab ein offizielles Protokoll, ein Banner wurde ausgerollt, ein Video abgespielt. In der öffentlichen Wahrnehmung hat das niemanden gejuckt. Das waren wichtige, aber zahnlose Zeichen. Beim Niederknien handelt es sich um keine von oben angeordnete Aktion. Sie geht von den Athleten aus. Dadurch bekommt es eine neue Dimension. Das begrüßen wir als Anti-Rassismus-Campaigner.

STANDARD: Manche Teams knien vor Anpfiff, andere nicht.

Wachter: Das Problem sind die Verbände und Fangruppen. Bei Ungarn gibt es eine Direktive an die Spieler, die Aktion nicht zu unterstützen. In Einzelfällen mag es so sein, aber auch bei den Russen glaube ich nicht, dass der Verzicht aus ideologischer Überzeugung passiert. Man sieht, die Uefa-Länder sind gespalten. Ein positiver Effekt: Es wird intensiver darüber diskutiert.

Kurt Wachter forscht über soziale Inklusion.

STANDARD: Und bei den Fans?

Wachter: Wir wissen schon länger, dass es in der Fanszene rechtsextreme Organisierungen gibt, die mit Fußballklubs verbandelt sind. Die Mainstream-Fankultur etwa in russischen Stadien ist keine liberale. Soziale und politische Bewegungen finden sich auch im Fußball wieder.

STANDARD: In England wurden die eigenen Spieler ausgebuht.

Wachter: Das ist eine neue Dimension. Das antirassistische Ethos war in England durch Fanbotschafter verbreitet, die der Verband organisierte. Vielleicht sitzen heute andere Menschen im Stadion als noch vor ein paar Jahren.

STANDARD: Wie soll man mit Buhrufen aus dem Publikum umgehen?

Wachter: Es ist nicht die Zeit zurückzuschrecken. England war durch Buhrufe im Testspiel in Budapest so überzeugt wie nie zuvor von der Aktion. Die Uefa appelliert in den Stadien dazu, nicht zu pfeifen. Dass das kaum etwas bringt, kennen wir von Hymnen vor Nationalspielen, während deren vereinzelt auch gepfiffen wird. Im Verlauf des Turniers wird sich zeigen, wohin es gehen wird. Die Leute, die jetzt schweigen, könnten ein Bewusstsein dafür bekommen und den Protest aktiver unterstützen.

STANDARD: Was sind die Argumente der Leute, die buhen?

Wachter: Das kann mit der Ultra-Mentalität zu tun haben. Sie besagt: keine Politik im Stadion, keine Symbole, im Gegenzug aber auch kein aktives rassistisches Handeln. Wir sollten uns keine Illusionen machen, dass es nur liberale, aufgeschlossene Antirassisten im Stadion gibt. Ich denke auch, dass das Problem tatsächlich von einigen nicht verstanden wird. Die Geste hat etwas Religiöses, sie ist demütig und kann als Unterwerfung gedeutet werden. Möglicherweise herrschen deshalb Ambivalenzen. Unmut der Fans ist legitim, wenn es etwa um Kritik an Eigentümerstrukturen geht. Wenn er antiethischen Gehalt bekommt, wird er zum Problem. (Lukas Zahrer, 15.6.2021)