Eines der besten Essen, die ich in den vergangenen Monaten genießen durfte, war ein polnisches Festmahl von Ola Szwarc und Nadim Amin. Ola stammt aus Polen, Nadim aus Graz, beide haben sich in London im Moro kennengelernt, wo sie als Köche gearbeitet haben. Unter dem Namen Centrala Vienna haben die zwei einige Dinnerpartys in London und Wien geschmissen (die ich leider verpasst habe) und betreiben einen nicht nur wunderhübschen, sondern tatsächlich interessanten Instagram-Account, der sogar mir aufgefallen ist. Als ich neulich in Wien war, waren sie so nett, mich zu bekochen.

Allerlei Gurken
Tobias Müller

Wir haben zuerst Gurken geschlemmt, einmal frisch, etwas gequetscht und mit Salz und Honig gewürzt, einmal kurz angegoren ("half sour", sagt Ola), eine Spezialität, die es nur kurz im Jahr zu Beginn der Gurkensaison gibt. Dazu gab es Salo: eingesalzenes Schweinefett und Osteuropas Antwort auf Lardo. Statt ihn dünn aufzuschneiden, hat Olga ihn fluffig aufgeschlagen und einmal mit eingesalzenem, einmal mit frischem Sauerampfer gewürzt – beides ein zart schweinisches, erstaunlich leichtes Vergnügen, vor allem auf – Sakrileg! – knuspriges Mazzes-Brot gestrichen.

Die Vorspeise
Tobias Müller

Der Hauptgang war ein Fest der großen osteuropäischen Teigtaschentradition: gedämpfte Pampuchy (den chinesischen Baoze eng verwandt) und gekochte Vareniki, Pilmeni und Piroggi, manche mit Wasser, Ei und Hefeteig, mit Schwein, Sauerampfer und Apfel oder nur Topfen und Sauerampfer gefüllt.

Der Hauptgang
Tobias Müller

Das für mich Außergewöhnlichste aber war die Suppe: Ola und Nadim haben Zur kredenzt, eine klassische osteuropäische Sauerteigsuppe. Sie war aufregend sauer, mit angenehmen, fruchtig-komplexen Gärnoten und einer dicken, intensiven Cremigkeit, die an Klachelsuppe oder andere üppige Suppen erinnert hat – obwohl kaum Tier drin war bis auf ein wenig Hühnersuppe.

Sauerteigsuppe Zur
Tobias Müller

Eingelegt waren etwa murmelgroße, ganz junge und unverschämt cremige Kartoffeln (von Olas Mutter aus Polen zusammen mit Gurken als Care-Paket nach Wien geschickt), nur in Butter, Salz, Majoran und der eigenen Feuchtigkeit geschmort, und etwas knuspriger Buchweizen. Ich habe schon lange kein so einfaches, und gleichzeitig elegant-aufregendes Gericht gegessen.

Kartoffeln in Butter und Majoran

Zur gehört zu einem Genre von Gerichten, dass Wikipedia nüchtern, aber treffend als "Western Slawik Fermented Cereal Soups" zusammenfasst: Genauso wie für Brot wird zunächst ein Sauerteig angesetzt, der sogenannte Zakvas – bloß dass er deutlich flüssiger ist und mit diversen Gewürzen versetzt wird. In Olas Fall waren das Lorbeerblätter, Knoblauch und Piment.

Um die Gärung in Gang zu bringen, können Reste vom alten Sauerteig oder Gurkenwasser zugegeben werden, für extra Geschmack kommt oft ein Stück Sauerteigbrotrinde mit in den Gärtopf. Nach der gewünschten Gärzeit – meist etwa fünf bis sieben Tage – wird der Teig nicht wie für Brot oder Palatschinken gebacken, sondern mit Suppe oder Wasser aufgegossen und gekocht.

Der bei uns bekannteste Vertreter dieser Suppenfamilie ist vielleicht der weiße Borschtsch, der aus Weizensauerteig gemacht wird. Zur hingegen wird aus Roggensauerteig gemacht, was die Suppe saurer und geschmacksintensiver macht (Fußnote 1). Zurek, ein weiteres Familienmitglied, ist eigentlich Zur, der mit Obers verfeinert und damit ein wenig um die Schneid gebracht wird, was als vornehm gilt.

Zur und Zurek werden in Polen traditionell zu Ostern und Weihnachten (dann mit getrockneten Pilzen) serviert, sind aber, versichert mir Ola, das ganze Jahr über in jedem ordentlichen polnischen Wirtshaus erhältlich. Ich schätze, dass sie einst klassisches Arme-Leute-Essen waren, nicht nur Resteverwertung, sondern direkte Nachfahren des einst überall weit verbreiteten Breis und der Biersuppe. Ich habe keine Ahnung, warum sie in Westeuropa ausgestorben sind (Fußnote 2), sich im Osten aber gehalten haben. Wenn sie so elegant zubereitet werden wie von Ola, ist es aber allerhöchste Zeit für eine Rückkehr.

Wenn Sie den Zur bei seiner Rückkehr unterstützen wollen: Ola und Nadim hätten gern eines Tages ein eigenes kleines Lokal. Das hat das Potenzial, zu einem der aufregendsten Neueröffnungen seit langem zu werden (Fußnote 3), und könnte Wien wenigstens eines der vielen tollen osteuropäischen Restaurants (Fußnote 4) schenken, die eine Stadt mit dieser Geschichte, dieser Lage und diesen Einwanderern haben müsste.

Polnischer Lebensmittelvorrat
Tobias Müller

Die beiden importierten jede Menge Köstlichkeiten aus Polen: In ihren Küchenregalen stapeln sich riesige, toll fleischig aussehende Bohnen, polnisches Mehl (besser für die Piroggen), Honig und getrocknete Pilze. Zu den Vorspeisen gab's polnischen Cidre, und selbst die grandiosen Kartoffeln wurden, wie schon erwähnt, wie die Gurken von Olas Mutter als Care-Paket nach Wien geschickt. Und was noch wichtiger ist: Die beiden schaffen es, aus diesen Produkten und den dazu passenden alten Traditionen etwas zu machen, was auch im 21. Jahrhundert in einer mitteleuropäischen Großstadt fantastisch schmeckt. Wer ein Lokal preiswert abzugeben hat, der möge sich daher bitte bei ihnen melden.

Wer bis dahin zwar nicht Osteuropäisches, aber trotzdem von Ola Gekochtes kosten möchte: Sie arbeitet derzeit im Brösl in Wien. Und wer bis dahin Zur selbst kochen möchte: Hier ist das Rezept. Und weil er so gut war, gerade Saison hat und so vielseitig verwendbar ist, steht das Rezept für eingesalzenen Sauerampfer auch noch dabei.

Polnischer Zur für vier Esser

Zuerst das Zakwas ansetzen:

  • 500 ml abgekochtes und abgekühltes Wasser
  • 6 Esslöffel Roggenmehl (Type 2500 oder Vollkorn)
  • 5 Knoblauchzehen
  • 3–4 frische Lorbeerblätter
  • 8 Pimentkörner
  • 6 schwarze Pfefferkörner

Alles zusammen in einem sauberen (abgekochten) Gefäß mischen, mit einem Tuch bedecken und an einem dunklen Ort bei Raumtemperatur lagern. Einmal am Tag mit einem sauberen Löffel umrühren. Nach drei bis vier Tagen sollte es angenehm sauer zu riechen beginnen, und nach 6 bis 8 Tagen ist das Zakwas fertig. Den Knoblauch und die Gewürze aussieben und den Zakwas verschlossen im Kühlschrank aufbewahren. Wenn es schneller gehen soll, kann man den Saft von Salzgurken, Sauerkraut oder altes Zakwas verwenden, um der Fermentation auf die Sprünge zu helfen.

Für die Suppe eine klare Gemüse- oder Hühnerbrühe oder das Kochwasser von Weißwürsten verwenden. 1 l Brühe/Kochwasser mit 500 ml Zakwas mischen. Das Zakwas in die heiße Brühe rühren und so lange köcheln, bis die Suppe eindickt, etwa zehn Minuten. Mit Salz und Pfeffer abschmecken.

Vor dem Servieren eine Handvoll Buchweizen in einer Pfanne anrösten und drüberstreuen.

Herrlich mit kleinen heurigen Erdäpfeln, nur in Butter, frischem Majoran, Salz und Pfeffer bei sehr niedriger Hitze gekocht, bis sie weich und süß sind. Topf so dicht wie möglich abdecken und immer wieder rütteln. Traditioneller und auch toll: mit Weißwurst und/oder einem hartgekochten Ei.

Eingesalzener Sauerampfer

  • 500 g Sauerampfer
  • 4 Teelöffel Salz
Symbolbild. Ein Zur mit Haferwurzeln und größeren Kartoffeln, den Ola im Winter gemacht hat
Ola Szwarc

Den Sauerampfer waschen, trocknen und klein schneiden. In einer Schüssel mit dem Salz verkneten und eine Stunde stehen lassen. Dann so dicht wie möglich in ein sauberes Glas packen und oben 2 cm Luft lassen. Das Glas nicht zu fest verschließen und in einem heißen Wassertopf oder im Backrohr pasteurisieren. Herausheben und erst jetzt den Deckel ordentlich zumachen. Für alles Mögliche, von Aufstrichen über Teigtaschenfüllungen bis zu Suppeneinlagen, verwenden. (Tobias Müller 20.06.2021)


Fußnote 1: Roggensauerteig hat geschmacklich auch beim Brot stets mehr zu bieten als Weizensauerteig. Erstens, weil Roggen einfach von sich aus nach mehr schmeckt, und zweitens, weil Roggen keimt, bevor er geerntet wird, weswegen viel mehr Enzyme in ihm aktiv sind, was wiederum dafür sorgt, dass bei seiner Gärung noch mehr Aromastoffe entstehen.

Fußnote 2: Ich kenne in Österreich nur saure Milchsuppe, aber keine aus Sauerteig.

Fußnote 3: Das ist ja immer die große Herausforderung mit dem kulinarischen Erbe: es zu verwalten und es heute mit Genuss essbar zu machen. Ganz originalgetreu traditionelles Essen ist meisten fad bis scheußlich und höchstens was für Hardcore-Fans. Kein Mensch will französische Küche wie im 18. Jahrhundert oder tatsächliches römisches Arbeiteressen von vor 50 Jahren essen, genauso wie sehr wenige Leute wirklich Freude daran haben, die Odyssee im Original oder einer Übersetzung aus dem 19. Jahrhundert zu lesen. Diese hier hingegen macht richtig Spaß.

Fußnote 4: Ich weiß, osteuropäisch ist ein weites Feld, und ich kenne mich nicht genug aus, um da exakte Einteilungen zu treffen, aber mir kommt vor, dass polnische Küche der ukrainischen und westrussischen ähnlicher ist als Tschechien und die Slowakei. Wer hier Kompetenz hat, der möge doch posten.