Im leeren Mehrzwecksaal der örtlichen Volksschule im fiktiven südtirolerischen Dorf Hochwald tanzt Mario (Thomas Prenn) wie ein junger John Travolta allein auf der Bühne. Er träumt von einer Karriere als Tänzer, vom Ausbrechen aus der beengten Atmosphäre seines heimischen Bergdorfes. So beginnt Evi Romens Regiedebüt „Hochwald“, der diesjährige Gewinner des großen Diagonale-Preises für den besten Spielfilm. Was zunächst wie eine queere Coming-of-Age-Story über einen jungen Mann, der in der großen, weiten Welt seinen Träumen nachjagen will, wirken mag, entwickelt sich im Verlauf der Erzählung zu einem vielschichtigen und widersprüchlichen Porträt eines Außenseiters und seines oftmals gnadenlosen Umfeldes. Dabei spielt „Hochwald“ gekonnt mit den Erwartungshaltungen des Publikums, nicht zuletzt durch die fortlaufende Konfrontation der Zusehenden mit den eigenen Vorurteilen.

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"Warum nicht du?"

„Hochwald“ ist gekennzeichnet durch das Aufeinanderprallen von Gegensätzen. Während Mario aufgrund seiner begrenzten Ressourcen nur von einer künstlerischen Karriere in der großen Stadt träumen kann, hat sich dieser Traum für seinen aus reichem Elternhaus stammenden Jugendfreund Lenz (Noah Saavedra), mit dem ihn eine komplizierte Vergangenheit verbindet, bereits erfüllt. Als dieser Mario nach Rom mitnimmt, werden beide in ein islamistisches Attentat in einer Gaybar verwickelt, das Lenz nicht überlebt. Mario kehrt daraufhin nach Hochwald zurück und muss sich nun nicht nur seinem eigenen Trauma stellen, sondern auch der Dorfgemeinschaft und der immer mitschwingenden Frage, warum es nicht ihn getroffen hat. Für Mario beginnt eine verheerende Abwärtsspirale, aus der er einen unerwarteten Ausweg findet. Über eine zufällige Begegnung mit seinem ehemaligen Lehrlingskollegen Nadim (Josef Mohamed) findet Mario Halt in einer muslimischen Glaubensgemeinschaft. In seiner Dorfgemeinschaft stößt er damit auf Unverständnis und Ablehnung.

Mario und Lenz verbindet eine komplizierte Vergangenheit.
Foto: AMOUR FOU/Take Five/Flo Rainer

Marios Geschichte ist aber auch keine klassische Konversionsgeschichte. Er ist kein verlorenes Schäfchen, das durch ein plötzliches religiöses Erweckungserlebnis errettet wird. Auf viel subtilere Art und Weise erzählt „Hochwald“ von einem Außenseiter, der mehr oder minder durch Zufall von der wohl unerwartetsten Seite den Rückhalt erfährt, den ihm sein Umfeld nicht bietet. Dabei geht es weniger um die Religion selbst oder deren Inhalte, sondern mehr um die Gemeinschaft, die ihn auffängt und die Reaktion seines Umfeldes darauf. In diesem Kontext erklärt die Regisseurin, dass sie die Themen Islam und Islamismus vor allem gewählt hat, weil sie mit einer zentralen Angst unserer Zeit arbeiten wollte. Hätte der Film im Italien der 1970er gespielt, wären es wohl die roten Brigaden gewesen. In dieser Herangehensweise zeigt sich auch Romens Bestreben nach Universalität in der Erzählung trotz der deutlichen lokalen und zeitlichen Verankerung.

Gegensätze und poröse Grenzen

Wie bereits angedeutet, sind jedoch Islam und dörflicher Katholizismus nicht die einzigen Gegensätze, die in „Hochwald“ aufeinanderprallen und dann letztlich doch miteinander verschwimmen: Stadt und Land, oben und unten, Arm und Reich sind nur einige dieser Pole, deren Grenzen im Film zunehmend porös werden. Die Unangepasstheit, die Mario bei dem Versuch, diese Ambivalenzen zu navigieren, an den Tag legt, vermag das Publikum mitunter auch zu verunsichern und mit den eigenen Vorurteilen zu konfrontieren. So ändert der Film auch durchgehend die Tonalität und die Richtung und spielt so gekonnt mit den Erwartungshaltungen der Zusehenden: Zwischen queerem Coming-of-Age-Drama, Heimatfilm und Anti-Heimatfilm und religiöser Konversionsgeschichte ist es letztlich immer die Unberechenbarkeit des zerrissenen Protagonisten, welche die Erzählung stets in neue Richtungen lenkt.

Das Spiel mit Gegensätzen verdichtet sich in der Figur des unangepassten Mario.
Foto: AMOUR FOU/Take Five/Flo Rainer

Tod, Sex, Drogen, Religion – es sind archaische Themen, mit denen  Romen in „Hochwald“ arbeitet. Trotz des sehr spezifischen südtirolerischen Settings spielt der Film auch immer wieder mit der Austauschbarkeit und zeigt die Universalität der Erzählung in einzelnen Situationen auf. Etwa zu Weihnachten in der Dorfdisko, die Dynamik des kleinen Ortes, in dem jeder seine Rolle zu spielen hat. Untermalt von einem Soundtrack, der mühelos zwischen italienischen 60er-Jahre-Klassikern und originalen Songs wechselt und getragen von einer gekonnten visuellen Inszenierung, überrascht „Hochwald“ immer wieder und entzieht sich letztlich jeglicher Kategorisierung. (Kathrin Trattner, 15.6.2021)

"Hochwald" startet am 08.10.2021 in den österreichischen Kinos.

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