Zehntausende Demonstranten forderten am 29. Mai Impfstoffe und die Amtsenthebung Bolsonaros. Die nächste landesweite Mobilisierung findet am 19. Juni statt.

Foto: NELSON ALMEIDA

Brasilien ist eines der am härtesten von der Corona-Pandemie getroffenen Länder. Die Wut Hunderttausender war am 19. Mai auf den Straßen der Metropolen spürbar. Mit der Forderung "Fora Bolsonaro" verlangten sie die Amtsenthebung ihres ultrarechten Präsidenten Jair Bolsonaro. Während die meisten Staaten weltweit Lockdowns verhängten und sich um Impfstoffe stritten, tat Bolsonaro Corona als "leichte Grippe" ab. Er untersagte einem ehemaligen Gesundheitsminister, Impfstoffe zu beschaffen, und legte sich mit brasilianischen Gouverneuren an, die Corona-Maßnahmen auf eigene Faust einführten.

Seit Ausbruch der Pandemie sind 480.000 Menschen mit einer Infektion verstorben. Wie sieht der Alltag in einem so von der Pandemie gebeutelten Land aus? Die gebürtige Brasilianerin und Singer-Songwriterin Célia Mara ist gerade in der Metropole Salvador da Bahia vor Ort – und gibt einen persönlichen Einblick.

Grafisch aufbereitete Zitate von Jair Bolsonaro bis Mai 2020: Erst nach fast einer halben Million Toten änderte sich nun sein Ton – bis Ende 2021 könnten alle Brasilianerinnen und Brasilianer geimpft werden, verkündete er letzte Woche.

STANDARD: In Österreich dürfen Getestete, Genesene und Geimpfte in Lokale, auf Konzerte oder zu Sportveranstaltungen. Was gilt in Brasilien?

Célia Mara: Davon sind wir weit entfernt. In Brasilien gibt es einen Fleckerlteppich an Corona-Maßnahmen in den verschiedenen Bundesstaaten. Bei uns in Salvador da Bahia gab es bereits mehrere Lockdowns gegen den Willen Bolsonaros. Es wurden Bars, Shoppingcenter und Strände geschlossen sowie Ausgangssperren verhängt. Es gilt eine Maskenpflicht. Ein Militärpolizist und Bolsonaro-Anhänger lief wegen dieser Maßnahmen Amok und schoss auf seine Kollegen. Dabei wurde er selbst erschossen. Für die Rechte ist er jetzt ein Corona-Märtyrer. Bolsonaros ständige Corona-Verharmlosung hat dazu geführt, dass sich eine Allianz der Gouverneure der Nordost-Bundesstaaten gebildet hat, die einen autonomen Corona-Kurs fahren. Deswegen sind hier die Zahlen besser als im Süden, in den Hochburgen Bolsonaros.

STANDARD: Wie kann man sich das Testen und Impfen in Brasilien vorstellen?

Célia Mara: Das Testen ist unmöglich. Es gab ungefähr zwei Millionen Schnelltests, die die Regierung Bolsonaro nicht gleich verteilt hat und die abgelaufen sind. Wenn man sich testen lassen will, muss man sich den Test von einem Arzt verschreiben lassen, damit zu einem Gesundheitsposten gehen und dort drei Stunden anstehen. Das tun sich die meisten Menschen nicht an. Die Reichen zahlen ein Drittel des brasilianischen Mindestlohns für einen PCR-Test im Labor. Geimpft wurde ich nur deshalb mit anderen Risikogruppen, weil die Gouverneure selbstständig Impfstoffe beschafft und die Kampagne niederschwellig organisiert haben. Auch da stellt sich Bolsonaro quer und nimmt Tote in Kauf.

STANDARD: Wie gehen Sie und Ihr Umfeld mit Corona um?

Célia Mara: Es gibt oft Momente, in denen man in völlige Angst kippt. Weil es so aussieht, als gäbe es keinen Ausweg. Freunde von meiner Partnerin und mir sind gestorben – in Bahia, aber auch in Wien. Wir gehen eigentlich nur zum Einkaufen raus, und wenn wir uns mit Freunden treffen, dann im Freien. Die Oberschicht schottet sich ab. Da gab es spektakuläre Fälle, in denen zum Beispiel eine bekannte Sängerin über Monate ihre Hausangestellte eingesperrt hielt, weil sie Angst hatte, dass sie das Virus "einschleppe". Andererseits sterben Hausangestellte, weil sie sich bei der Familie angesteckt haben. Hier wird die soziale Ungleichheit, die es schon vor Corona gab, noch sichtbarer. Aber es wird auch am Strand, in Bars gefeiert, obwohl am Wochenende ein Alkoholverbot gilt. Das Leben in Salvador da Bahia scheint fast normal zu verlaufen.

Die Pandemie habe die vorherrschende Ungleichheit in Brasilien sichtbarer gemacht, sagt die Künstlerin Célia Mara.
Foto: Helmut Riedl

STANDARD: Wird das Virus angesichts der 480.000 Corona-Toten verharmlost?

Célia Mara: Die meisten haben keine Wahl. Sie müssen arbeiten gehen, es gibt kaum staatliche Unterstützung. Das sieht man auch bei den Infizierten, die meisten sind Busfahrer, Schaffner, Verkäufer, Kellner und Botendienste, Menschen, die sich schwer schützen können. Bei den anderen, die die Pandemie nicht interessiert, wirkt die Fake-News-Maschinerie von Präsident Bolsonaro.

STANDARD: Bolsonaro hat diese Woche angekündigt, bis Ende 2021 die ganze Bevölkerung Brasiliens durchzuimpfen.

Célia Mara: Es kann schon sein, dass die Impfkampagne jetzt tatsächlich beschleunigt wird – weil sich Bolsonaro dem gesellschaftlichen Druck nicht mehr entziehen kann. Seine Popularität ist stark geschrumpft. Wegen fehlender Impfstoffe, Bolsonaros Zynismus und der fast 500.000 Toten stellen sich immer mehr hinter den linken Ex-Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten Lula da Silva. Er ist das Gegenteil von Bolsonaro, der die Bevölkerung nur gedemütigt hat.

STANDARD: Wie macht sich dieser Druck für Bolsonaro bemerkbar?

Célia Mara: Ein Untersuchungsausschuss prüft jetzt das Corona-Management der Regierung und wie es zur Katastrophe in der Metropole Manaus kommen konnte, wo sich besonders viele infiziert haben und verstorben sind. Dort wurde das Malariamittel Chloroquin massenhaft getestet, medizinischer Sauerstoff wurde zur Mangelware. Bolsonaro hat die Menschen dort krepieren lassen. (Elisa Tomaselli, 16.6.2021)