Atmende Airbags am Wehrturm in Perchtoldsdorf.

Neben der Palme: Die in Istanbul und Wien lebende Künstlerin Nilbar Güreş hinterfragt stereotype Gesellschaftsbilder von Frauen im kulturellen Kontext. Hier vor ihrer Collage "Hello".

Foto: Reha Arcan

"The future is female", sagt Nilbar Güreş ganz selbstverständlich. Frauen würden keine Kriege führen, das sei Männersache. Deshalb war es auch die richtige Entscheidung, eine Künstlerin für das Projekt auszuwählen, findet sie. Kritische Betrachtungen sind ein inhaltlicher Kompass für ihre Arbeiten, subtiler Schmäh und poetischer Tiefgang mischen sich dazu. Ihre neue Installation "Atem" steht quasi exemplarisch für ihr Werk.

Anlässlich des 500-jährigen Bestehens des spätmittelalterlichen Wehrturms im niederösterreichischen Perchtoldsdorf lässt sie nun weiße Airbags aus den Fensteröffnungen des Turms steigen, die sich aufblasen und wieder zusammenziehen. Als sie für das temporäre Projekt eingeladen wurde, wusste Güreş sofort, was sie machen wollte. "Ich hasse die Idee von Krieg, Militär und Grenzen", erklärt sie. Dem wuchtigen Wehrturm als Symbol von Abwehr und Sicherheit wollte sie etwas Leichtes entgegensetzen: "Schützen statt schießen", sagt sie schmunzelnd. Dass der Turm bei beiden Türkenbelagerungen angegriffen wurde, sei dabei ein witziges Detail.

Eindimensionale Frauen

1977 in Istanbul geboren, kam Güreş bereits als junge Frau nach Wien und begann 2002 an der Akademie der bildenden Künste und später an der Universität für angewandte Kunst zu studieren. Ihre Fächer: Malerei, Grafik, Kunstpädagogik und textiles Gestalten. "Sehr hart" sei es zu Beginn gewesen, erzählt sie, damals sei Wien anders gewesen: weniger offen, weniger divers als heute. Damals habe sie kaum die Sprache beherrscht, rekapituliert die Künstlerin, die seit 2012 von der Galerie Martin Janda vertreten wird.

Heute lebt und arbeitet sie in Wien und Istanbul, davor gab es Stationen in Berlin und New York. Erst kürzlich stellte sie in der Schweiz aus, 2018 fand eine Retrospektive im Linzer Lentos statt. Dieses Jahr sind ihre Arbeiten in Gruppenschauen in Amsterdam, Paris, Wien, Bulgarien und Südkorea zu sehen.

Mit ihren Skulpturen, Collagen und Fotografien hinterfragt Güreş Geschlechterrollen und kulturelle Zuschreibungen und spricht Themen wie Migration und das Tragen von Kopftuch an. Es stehen meist Frauen im Zentrum: Sie zerlegen ihre eigene Identität oder werden sich dieser bewusst. "Oft werden Ideen über Frauen produziert, die viel zu eindimensional sind", findet sie.

Objekte mit Seele

So wie die bildende Künstlerin Kritik an gewissen Themen übt, fordert sie das auch für ihre eigene Kunst ein. Wenn man ihre eigenen Werke lobt, langweilt sie das schnell. Sie möchte Kritik hören. Inhaltlich dürfe diese in ihren Werken allerdings nie zu offensichtlich sein. "Auch bei politischen Arbeiten braucht es eine starke ästhetische Sprache", findet sie. Auch Humor müsse involviert sein, sonst werde es zu pathetisch. Diese "spielerische Ironie" sei ein "wesentlicher Grundstoff" ihrer Arbeiten, beschreibt der Galerist Martin Janda den konzeptionellen Zugang.

Denn unter dieser kratzig-ironischen Oberfläche steckt immer auch etwas Poetisches: So ergänzen zum Beispiel ihre Atem-Airbags den Perchtoldsdorfer Wehrturm nicht nur als bewegliche Elemente, sondern beleben ihn – beatmen ihn quasi als lebendige Skulptur. Dabei bezieht sich die Künstlerin auf die Annahme des Animismus, dass auch Objekte beseelt sein können – und auf das kulturelle Erbe ihres Vaters.

Tradition am Sofa

Neben Spuren aus der kurdisch-alevitischen Naturreligion fädelt sie zusätzlich Erinnerungen aus ihrer Kindheit in der Türkei ein. "Sofa, Bluse, Rock, Möbel. Überall waren Stoffe und Muster", erinnert sich Güreş an Besuche bei weiblichen Bekannten. Inspiriert von dieser Materialpräsenz und der ihr inhärenten Tradition, arbeitet die Künstlerin heute viel mit Textilien. Die Stoffe kaufe sie aber vorwiegend in Wien.

Auch die hiesige Kulturszene ziehe sie jener in Istanbul vor. Zwar habe sie dort keine direkten Probleme, ihre Werke auszustellen, doch es gebe gewisse Grenzen, sagt Güreş: "Man denkt zwei- oder dreimal darüber nach, was man zeigt." Vor allem im öffentlichen Raum sei es schwierig. Viele Skulpturen weiblicher Körper seien zuletzt mutwillig zerstört worden. Eher würden Tiere als Figuren funktionieren, sie provozierten weniger. "Langweilig, oder?", fragt sie und lacht. (Katharina Rustler, 15.6.2021)