Im November 2020 kam es zu großflächigen Razzien gegen zahlreiche angebliche Muslimbrüder.

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Anfang November 2020 tauchten sowohl in Österreich als auch in Ägypten Polizisten bei Gegnern der Regierung von Abdelfattah al-Sisi auf. Die könnten allerdings unterschiedlicher kaum sein: Hierzulande nahmen die Staatsanwaltschaft Graz und der Verfassungsschutz angebliche Muslimbrüder ins Visier; in Ägypten setzte es eine Aktion scharf gegen die Menschenrechtsorganisation EIPR (Egyptian Initiative for Personal Rights).

Als das EU-Parlament kurz vor Weihnachten 2020 in einer Resolution das ägyptische Vorgehen gegen die Mitarbeiter der NGO verurteilen wollte, schienen beide Fälle aufeinanderzuprallen: Denn merkwürdigerweise enthielt sich die überwiegende Mehrheit der konservativen EU-Parlamentarier der Stimme. Während alle anderen österreichischen EU-Abgeordneten für die Resolution stimmten, blieben die ÖVP-Mandatare zur Frage der Menschenrechte in Ägypten neutral. Was war da passiert?

Scharfe Resolution

Christian Sagartz, burgenländischer ÖVP-Obmann und im EU-Parlament stellvertretender Vorsitzender des Menschenrechtsausschusses, wollte sich auf Anfrage des STANDARD nicht äußern. Kurz vor der Abstimmung über die Resolution hielt Sagartz aber eine seiner wenigen Reden im Plenum des EU-Parlaments. Die konservative Fraktion unterstütze zwar die inhaftierten Aktivisten, aber: "Die Europäische Union sieht Ägypten als Partner, vor allem im Kampf gegen den Terrorismus."

Die Resolution sei zu scharf formuliert und überschießend, meinte Sagartz: "Wir dürfen aber die Balance auch hier nicht vergessen. Und ich glaube, es ist hochnotwendig, auch die Partnerschaft in gemeinsamen Interessen mindestens ähnlich in den Fokus zu stellen wie alle anderen Bemühungen und alle anderen Probleme, die heute berechtigt und sehr deutlich zur Sprache gekommen sind."

Zurück nach Österreich und den hiesigen Maßnahmen gegen angebliche Muslimbrüder. Im Sommer 2017, noch unter Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP), wurde im BVT ein eigenes Referat für "operative Analyse" gegründet. Zuvor waren diese Aufgaben in den einzelnen Referaten selbst erledigt worden, also zum Beispiel im Terrorreferat oder in der Spionageabwehr. Einige Zeit passiert gar nichts, nach der Suspendierung von BVT-Direktor Peter Gridling fokussierte sich die neue Analyseeinheit ab Mai 2018 plötzlich auf die Muslimbruderschaft – so sehr, dass andere Referate über mangelnde Informationen für ihre eigenen Tätigkeiten stöhnen.

Studien und Förderungen

Die Muslimbruderschaft war zuvor vor allem politisch von ÖVP und FPÖ zum Thema gemacht worden: Der Integrationsfonds, der zum Außenministerium ressortierte, sponserte schon 2017 unter dem damaligen Außenminister Sebastian Kurz mit dem Verfassungsschutz und der Universität Wien eine "Studie" des Wissenschafters Lorenzo Vidino. Deren Kernaussage: "Die Ziele der Muslimbruderschaft laufen der Integration in Österreich zuwider." Vidino ist Extremismusforscher an der George Washington University, seine Anfänge hatte er in den 2000er-Jahren im Umfeld weit rechts stehender Republikaner in den USA gemacht.

Auch in den späteren Ermittlungen wird Vidinos Studie eine große Rolle spielen. Es sind türkis-blaue Bausteine, die ineinandergreifen: Der zu einem ÖVP-geführten Ministerium gehörende Integrationsfonds sponsert mit dem BVT des damals türkisen Innenministeriums Vidinos Studie; als der Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) heißt, wird im BVT dazu "analysiert". Im Rest des BVT herrschte Unverständnis darüber, dass so viele Ressourcen in die Ermittlungen gesteckt werden; teils munkelte man, es gehe um geopolitische Hintergründe oder finanzielle Abhängigkeiten einzelner politischer Entscheidungsträger.

BVT-Beamte erstatteten in diesem Zusammenhang nun Anzeige gegen ehemalige Vorgesetzte, wie die "Presse" berichtet: Sie vermuten, dass die Einsetzung entsprechender Arbeitsgruppen zur Muslimbruderschaft politisch motiviert gewesen sein könnte. Das Bundesamt für Korruptionsbekämpfung ermittle. Eine STANDARD-Anfrage an das Innenministerium läuft. Laut "Presse" seien im BVT plötzlich Namenslisten zusammengetragen worden, auf denen sich auch Minderjährige befunden haben sollen.

Ressourcennot im BVT

Die Causa Muslimbrüder verschlang, obwohl von ihnen keine Gefahr in Österreich ausgeht, derart viel Aufmerksamkeit, dass selbst die Bekämpfung jihadistischen Terrors darunter litt. Auf horrende Weise sichtbar wurde das am 2. November 2020, als ein IS-Anhänger vier Menschen in Wien ermordete. Verfassungsschützer hatten zuvor mehrfach Alarmsignale ignoriert; das könnte laut dem Abschlussbericht der Terror-Untersuchungskommission auch mit dem Fokus auf die Muslimbruderschaft zu tun haben. Auch in einem Verfahren auf Amtshaftung, das von Hinterbliebenen der Terroropfer angestrebt wird, argumentierte die Republik so.

Das Thema wurde auch zum Herzstück der unter Türkis-Grün neu gegründeten Dokumentationsstelle Politischer Islam, deren Leitung eine langjährige Mitarbeiterin des Integrationsfonds übernahm. Zuletzt sorgte die Dokustelle mit einer "Islamlandkarte" für hitzige Diskussionen; auch innerhalb der ÖVP und bei den christlichen Kirchen gab es darüber Empörung.

Im Grunde reihte sich Österreich mit den Maßnahmen gegen angebliche Muslimbrüder und den "politischen Islam" in eine lange Liste an europäischen Verbündeten ein. Auch in Frankreich wird gegen die Organisation vorgegangen: Abgeordnete forderten erst im Sommer 2020, dass Muslimbrüder nicht predigen dürfen sollen. In Deutschland beobachten einzelne Landesämter für Verfassungsschutz die Muslimbruderschaft mit Sorge.

Schmaler Grat

Ein natürlicher Verbündeter im Vorgehen gegen die Muslimbruderschaft ist Ägypten: Dessen Präsident Al-Sisi kam nach dem Sturz des ersten demokratisch gewählten Präsidenten Mohammed Morsi an die Macht, der ja bekanntlich aus der Muslimbruderschaft stammte. Als im Sommer 2013 bei Protesten auf dem Rabia-Platz in Kairo hunderte Demonstranten getötet wurden, entstand das moderne Symbol der Muslimbruderschaft: das R4bia-Handzeichen.

Daher besteht die Opposition in Ägypten nicht nur aus säkularen Kräften, sondern großteils auch aus Muslimbrüdern. Für die europäische Diplomatie entsteht dadurch ein schmaler Grat: Man will einerseits in Ägypten demokratische Kräfte unterstützen, zu Hause aber die Muslimbrüder bekämpfen. Teils setzt man hier auch auf eine Kooperation mit ägyptischen Nachrichtendiensten.

Diese Zusammenarbeit dürfte ein Grund dafür sein, dass sich die Europäische Volkspartei (EPP) im EU-Parlament großteils der Stimme enthielt, als das Vorgehen der ägyptischen Sicherheitskräfte gegen Menschenrechtler von EIPR zur Abstimmung stand. Und das, obwohl ein Besuch von europäischen Diplomaten aus Schweden, Italien, Deutschland, Spanien, Frankreich, der Schweiz und Finnland bei EIPR Auslöser für die Festnahmen der Menschenrechtler gewesen sein könnte. Das könnte wiederum das Motiv für einige Abweichler innerhalb der EVP gewesen sein: Konservative italienische, belgische und schwedische Abgeordnete stimmten doch dafür, Ägypten zu verurteilen. (Fabian Schmid, 17.6.2021)