Der Neusiedler See ist der westlichste Steppensee. Und der größte See Österreichs.

Foto: www.corn.at Heribert CORN

Den See, so sagen sie alle, musst du riechen. Mehr noch, du musst ihn riechen mögen: den Morast und das Salz; die Frische des Wassers und das trockene Flirren der Steppenhitze; das alles verquirlt vom Wind, der hier ja immer weht. Selbst bei Windstille.

Wenn du so riechst, sagen sie, dann hörst du es auch: die Frösche, wie sie singen; das Schilf, wie es knistert. Ganz oben die Schwalben, weiter weg die Gänse, manchmal der Reiher. Libellen. Hin und wieder klatscht ein Fisch. Wenn es später wird, sagen sie schließlich auch, fängst du zu schmecken an: auf der Mole West in Neusiedl, beim Fritz in Weiden, im Ruster Katamaran, im Mörbischer Langgusto – nur zum Beispiel.

Vor nicht allzu langer Zeit hätte in dieser Aufzählung das Haus im See in Fertőrákos keinesfalls fehlen dürfen. Aber das gibt es nicht mehr. Das tatsächlich heruntergekommen gewesene Strandbad wird gerade zu einer mondänen Destination ausgebaut. Naturschutzorganisationen laufen Sturm dagegen.

Der See, seine Güte

Auch das gehört zum Neusiedler See, den die Ungarn Fertő tó nennen; Sumpfsee. An kaum einem anderen österreichischen Gewässer prallen die Vorstellungen darüber, wozu es eigentlich da wäre, so aufeinander: Naturreservat, Geschäftsquelle, Sportplatz, Rückzugsgebiet, Partyzone, Klimaregulator für die Landwirtschaft. Der Wein verdankt dem See seine Güte. Und, als i-Tüpferl, die Edelfäule, die verantwortlich ist für die fantastischen Süßweine.

Einer der eindrucksvollsten Blicke, die es am See gibt, ist der vom Ostufer an einem frühen Morgen, wenn der einen klaren Tag verheißt. Im ersten Licht schillert der Schneeberg, der letzte Wachmeister des weiten, westeuropäischen Alpenbogens. Hinter einem erwacht die Steppe, ein Gruß des europäischen Ostens.

Naturschutz

Der Neusiedler See ist der westlichste Steppensee. Und der größte See Österreichs. Zu Ungarn gehört ja nur ein kleiner Zipfel im Süden. Bis 1989 stießen hier nicht nur diese zwei europäische Großlandschaften – die Alpen und Pannonien – aneinander. Sondern zwei Welten. Quer durch den See verlief der Eiserne Vorhang.

Mit 36 km Länge ist der Neusiedler See der größte abflusslose See in Mitteleuropa.
Grafik: DER STANDARD

Die Ungarn betonierten 1973 eine Insel und stellten ein Vermessungszeichen drauf, um West und Ost auch auf der Wasseroberfläche millimetergenau zu trennen. Dass 1993 aus dem einstigen WWF-Schutzgebiet Lange Lacke der grenzüberschreitende Nationalpark Neusiedler See-Seewinkel herausgewachsen ist, hatte also Bedeutung weit über den Naturschutz hinaus.

Seit 2001 ist die Region Neusiedler See Unesco-Welterbe. In der Begründung der Erbschaftshüter heißt es: "8000 Jahre lang fand hier ein reicher Kulturtransfer finno-ugrischer, slawischer und germanischer Völker statt, der die Bildung einer einzigartigen Kulturlandschaft bedingte."

Es ließen sich noch einige Völker anfügen, von Kelten und Römer beginnend, ohne an der Grundaussage etwas zu ändern. Die Gegend des Neusiedler Sees – die Römer nannten ihn "lacus peiso" – ist vom Menschen geformt. Auch die so ursprünglich scheinende Steppe des Nationalparks ist uraltes Weideland. Ohne Bewirtschaftung würde die Steppe verbuschen.

Sensibles Gewässer

Selbst der Schilfgürtel ist weitgehend menschengemacht. Seine Ausdehnung zu einem der größten zusammenhängenden Schilfgebiete Europas verdankt sich dem 1909 fertiggestellten Einserkanal, dem einzigen künstlichen Abfluss des Sees. Dadurch wurde das Seewasser süßer. Das Röhricht mag das. Nur in Podersdorf, wo der Nordwestwind nicht nur die Surfer zum Fliegen bringt, sondern auch die Eisschollen türmt, gibt es einen schilffreien Wasserzugang.

Das alles – und noch einiges mehr – macht den See zu einem hochsensiblen Gewässer. Seine Nutzung ist ein ständiger Balanceakt. Manchmal geraten die Akteure sich in die Haare und ins Schlingern. So wie jetzt gerade, da die vor 25 Jahren durchs europäische Ziel-1-Geld ermöglichten Investitionen auch schon wieder Patina angesetzt haben.

Naturschützer rufen, nachvollziehbarerweise, Alarm. Die Touristiker fordern, nachvollziehbarerweise, das Ihre. Die Pandemie hat Naherholungsgebiete in Konjunktur gebracht. Und der See liegt – wie eine überdimensionierte pannonische Außenalster – inmitten der Twin-City-Region; ist nicht mehr bloß das Meer der Wiener, sondern längst auch schon das für Bratislava.

Weht der Wind günstig, kann man ihn da wie dort riechen. Jene zumindest tun das, die ihn ohnehin in der Nase haben und an Morbus peiso leiden; der Seesehnsucht. (Wolfgang Weisgram, Magazin Leben im Burgenland, 19.6.2021)