Anderswo haben Regierungen hundert Tage Schonfrist. In Israel ist für solchen Luxus kein Platz. Nur 48 Stunden nachdem das Kabinett Bennett sein Amt angetreten hatte, schlugen die Flammen hoch. Israels Armee bombardierte Ziele im Gazastreifen.

Es waren zwar die ersten Luftangriffe in Gaza seit Beginn der Waffenruhe vor gut drei Wochen. Das Ende der Feuerpause hatte die Hamas aber schon vergangene Woche eingeläutet, indem sie regelmäßig Brandballons über die Grenze schickte. Für die Hamas sind die Ballons ein effizientes Mittel der Proväokation: Sie sind billig, das Abwehrsystem Iron Dome ist machtlos gegen sie, und im Juni sind die Felder der grenznahen Kibbuzim dürr genug, um rasch Feuer zu fangen. Vor allem aber erhofft sich die Hamas spektakuläre Bilder von Rauchsäulen auf israelischem Territorium: So kann man aufwandslos Macht demonstrieren, ohne gleich den Casus Belli vorzulegen.

Israels Armee bombardierte in der Nacht auf Mittwoch Ziele im Gazastreifen.
Foto: MAHMUD HAMS / AFP / APA

Die bis Sonntag waltende Regierung von Benjamin Netanjahu hatte die Ballons noch ignoriert. Das war möglich, weil ihre Zahl überschaubar war. Am Dienstag aber landeten rund 30 Brandsätze auf israelischem Boden, das Ausmaß überstieg die Achselzuckschwelle. Und die Armee äußerte ihren Standardsatz: "Wir bereiten uns auf alle Szenarien vor."

Netanjahus Vermächtnis

Die Eskalation kam alles andere als überraschend. Sie war ein Vermächtnis Netanjahus. Der bis Sonntag waltende Premier hatte auch die Frage, ob man die umstrittene Flaggenparade durch Jerusalem absagen oder genehmigen solle, einfach an die Nachfolgerregierung weitergereicht. Sie sollte sich daran die Zähne ausbeißen. Die Parade bietet jedes Jahr Zündstoff, diesmal ganz besonders. Das zeigte sich im Mai, als sie eigentlich hätte stattfinden sollen – und dann im Raketenbeschuss der Hamas unterging.

Netanjahus Kalkül, die Parade möge zum Spaltpilz für die neue Koalition werden, ging aber nicht auf. Zwar distanzierten sich einzelne Stimmen in der Rechts-Links-Juden-Araber-Koalition von der Entscheidung, die Nationalisten marschieren zu lassen. Polizeiminister Omer Bar-Lev hatte die Route aber abgeändert, um die Parade großteils am muslimischen Viertel der Altstadt vorbeizuleiten.

Bei den Marschierenden sorgte das für Zorn. "Ein Kniefall vor der Hamas" sei die Umleitung, sagte Daniel, ein Mittvierziger. "Das gibt es in keinem anderen Land, dass man in der eigenen Hauptstadt nicht einfach marschieren darf, wo man will", behauptete die 70-jährige Shirli.

Neue Regierung als Feindbild

Die neue Regierung hatte auf der Parade keine Fans. Plakate mit Meuchelfotos von Premier Naftali Bennett wurden verteilt, darauf stand in großen, blutroten Lettern: "Bennett der Lügner!" Eltern bastelten aus den Plakaten Umhänge für ihre Kleinen, Teenager spießten Bennetts Konterfei auf Zaunstangen, die aus Bennetts Kopf in Form von Satanshörnern herausragten. Zwei rechtsextreme Parlamentsabgeordnete aus Netanjahus Lager traten vor den Marschierenden auf und versprachen, "das Land zurückzuholen" in die Arme des rechtsreligiösen Blocks.

"Naftali ist ein Lügner" stand auf Plakaten beim nationalistischen Flaggenmarsch in Jerusalem über den neuen Premier.
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Zuvor hatten Befürworter der Parade den Vorwurf, sie würden mit ihrer nationalistischen Geste nur unnötig provozieren, scharf zurückgewiesen. Es handle sich doch bloß um eine "Feier der Vereinigung Jerusalems", erklärte Fleur Hassan, Vizebürgermeisterin von Jerusalem.

Von einem vereinten Jerusalem war Dienstagabend vorm Damaskustor jedenfalls nichts zu spüren. Hier traf der Marschzug erstmals auf palästinensisch bewohntes Gebiet, und die Parade legte einen längeren Halt ein, um in Sprechchören klarzumachen, wem die Stadt gehört und wem nicht: "Das Volk Israel lebt", vereinzelt auch "Tod den Arabern" wurde skandiert.

Hochrisiko-Derbyspiel

Überall waren Polizeisperrgitter aufgestellt, ein mehrere Meter breiter Korridor trennte den jüdischen Paradezug von den hier lebenden Palästinensern, als handle es sich um ein Hochrisiko-Derbyspiel.

Für rund eine Stunde machte der Marsch vor dem Damaskustor halt. Eine Gruppe von Siedlerjungs presste sich ans Sperrgitter, brüllte Botschaften auf Vulgärarabisch über den Korridor hinweg: "Du Hund! Du Hurensohn!" Ein älterer Palästinenser antwortete mit einer Kopulationsgeste. Jerusalem, die ewige Stadt im heiligen Land, zeigte sich von ihrer hässlichen Seite – wie jedes Jahr zum Flaggenmarsch.

Anders als sonst kamen diesmal aber von der Regierung deutliche Worte. Wer "Tod den Arabern" rufe, sei "eine Schande für das Volk Israel", erklärte Vizepremier Yair Lapid. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 16.6.2021)