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Shi Zhengli (hier in einer Archivaufnahme aus dem Jahr 2017) leitet das Zentrum für neu auftretende Infektionskrankheiten am Institut für Virologie Wuhan. Vertreter der Laborthese geben ihr Mitschuld am Ausbruch der Pandemie.

AP

Es ist das wohl größte ungelöste Rätsel der Corona-Pandemie: Wie und wo sprang das Virus Sars-CoV-2 Ende 2019 auf einen Menschen über und löste damit die schlimmste Seuche der letzten hundert Jahre aus? Gehen die meisten Fachleute nach wie vor von einem natürlichen Ur- oder besser Übersprung aus, so hat in den letzten Wochen insbesondere in den USA die Hypothese von einem Laborunfall in Wuhan viel Aufwind bekommen – auch wenn sich an der Faktenlage seit Monaten so gut wie nichts geändert hat.

Von konservativen Medien wird die Laborthese seit Beginn der Pandemie getrommelt, doch kürzlich verlangte auch US-Präsident Biden von seinen Geheimdiensten Aufklärung. Im Fachblatt "Science" verlangten vor einigen Wochen Wissenschafter unvoreingenommene Aufklärung. Und selbst in einer traditionell liberalen TV-Sendung wie "The Late Night Show with Stephen Colbert" durfte Komiker-Kollege Jon Stewart zuletzt ausführlich seine – wissenschaftlich umstrittene – Sicht der Dinge darlegen.

The Late Show with Stephen Colbert

Damit rückte auch die chinesische Forscherin Shi Zhengli wieder in den Fokus des internationalen Interesses. Die Virologin leitet das Zentrum für neu auftretende Infektionskrankheiten am Institut für Virologie Wuhan, das bei den Anhängern der Laborthese als hauptverdächtig gilt. Doch die 57-jährige Wissenschafterin, die 2020 von der Zeitschrift "Scientific American" den Beinamen "Bat Woman" erhielt, weist seit Beginn der Pandemie beständig jede Schuld von sich. Und Anfang dieser Woche wiederholte sie ihre Beteuerungen in einem ausführlichen Interview in der "New York Times".

Verdiente Virologin

Die große Frage ist, wie glaubwürdig die Aussagen von Shi sind, die – anders als viele chinesische Wissenschafter – kein Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas ist. Außer Zweifel steht, dass die Forscherin, die als extrem fähig gilt, schon lange vor der Pandemie eine der weltweit führenden Coronaviren-Expertinnen war und auch eine maßgebliche Rolle bei der schnellen Entschlüsselung von Sars-CoV-2 spielte. Das war wiederum der Grund, warum sie vom "Time"-Magazin in die Liste der 100 einflussreichsten Personen des Jahres 2020 aufgenommen wurde.

Shi studierte in Wuhan, machte ihren Doktor aber im Jahr 2000 in Montpellier, weshalb sie neben Englisch auch fließend Französisch spricht. 2005 konnte sie zeigen, dass Fledermäuse die Wirte von Sars-ähnlichen Coronaviren sind. Die mehrfach ausgezeichnete Virologin trug zudem zur Aufklärung der Atemwegserkrankung Mers bei.

Gain-of-Function-Experimente als Beweis?

Zu diesem Zweck führte sie mit US-Kollegen auch sogenannte Gain-of-Function-Experimente durch, bei denen Viren verändert werden, um das Risiko für Menschen besser abschätzen zu können. Solche Forschungen werden nun als Argument ins Treffen geführt, warum die Pandemie womöglich in Shis Labor in Wuhan ihren Ausgang nahm. Zudem gibt es den Verdacht, dass drei Mitarbeiter unmittelbar vor Ausbruch der Pandemie erkrankten und in ein Spital eingeliefert wurden

Im Interview mit der "New York Times" wies Shi den Verdacht zurück, vor dem Ausbruch der Pandemie solche Experimente durchgeführt zu haben. Und von den erkrankten Mitarbeitern wisse sie nichts und verlangte konkrete Namen. Sie sei sich völlig sicher, "nichts Falsches getan zu haben". Ob das auch stimmt, weiß vermutlich nur sie selbst – und ob man je die Wahrheit erfahren wird, steht in den Sternen. China macht vorläufig jedenfalls keine Anstalten, die Laborprotokolle der Experimente am Instituts für Virologie herauszurücken oder eine unabhängige Untersuchung zu ermöglichen.

Labor oder doch Markt?

Doch auch das muss noch nichts heißen und ist kein Beweis, dass Sars-CoV-2 am Institut für Virologie in Wuhan seinen Ausgang nahm und nicht am Fisch- und Wildtiermarkt. Letzte Woche erschien im Fachblatt "Scientific Reports" eine neue Studie über die dort unmittelbar vor Ausbruch der Pandemie 2019 unter katastrophalen Bedingungen gehaltenen und verkauften Tierarten. Die lange Liste umfasst nicht weniger als 38 Spezies. 31 davon sind geschützt, und von 33 ist bekannt, dass sie mit Parasiten infiziert sein können, die auch Menschen infizieren. Sars-CoV-2 ist allerdings (noch) nicht dabei. (Klaus Taschwer, 16.6.2021)