Ein Mädchen sitzt allein auf den Stufen – die Gefährdung von Kindern wird vielfach nicht ernst genommen, wenn daheim Gewalt ausgeübt wird.

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Wien – Gesetzlich sei Kindeswohl in Österreich, etwa mittels UN-Kinderrechts- und Istanbul-Konvention, gleich mehrfach verankert – "aber leider steht es nur auf dem Papier", sagte Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin der Autonomen Österreichischen Frauenhäuser, am Donnerstag bei einer Pressekonferenz. In Fällen häuslicher Gewalt mit Polizeiintervention, Wegweisung und Trennungsbestrebungen des gefährdeten Beziehungspartners – allermeist der Frau – wirke sich das höchst negativ aus.

"Wir erleben immer wieder, dass der Schutz der mitbetroffenen Kinder von den zuständigen Stellen nicht ernst genug genommen wird", betonte Rösslhumer.

Kein Verstoß Österreichs

Anlass des Pressegesprächs war der am Dienstag veröffentlichte Freispruch Österreichs durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Fall jenes achtjährige Buben, der 2012 von seinem Vater aus der Schulklasse geholt und in der Garderobe erschossen wurde. Im Vorfeld der Tat hätten die österreichischen Behörden "ordnungsgemäß" gehandelt. Sie hätten eine "autonome, proaktive und umfassende Risikoeinschätzung" durchgeführt, hatten die Richterinnen und Richter der großen Kammer des EGMR befunden.

Österreich habe nicht gegen das Recht auf Leben des Buben laut Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen.

Kinder immer mitgefährdet

Dieses Urteil sei "bedauerlich", aber es sei – wie in derlei Rechtsfällen immer – laut dem Wissensstand zum Tatzeitpunkt gefällt worden, sagte Rosa Logar, Leiterin der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt. 2012 sei der "Zusammenhang von Gewaltausübung gegen die Beziehungspartnerin und gegen ihre Kinder" noch weniger im Fokus der einschreitenden Behörden gestanden als heute.

Heute sei aus der Praxis sowie auf Basis von Studien noch klarer als damals, "dass Kinder mitgefährdet sind, auch wenn ausschließlich die Mutter misshandelt wurde". Logar nannte konkrete Zahlen: 2020 betreute die Wiener Interventionsstelle 6.200 Opfer von Gewalt, 83 Prozent davon Frauen und Mädchen. 725 dieser Klientinnen und Klienten, also zwölf Prozent, waren Kinder und Jugendliche. Die österreichischen Interventionsstellen gegen Gewalt schreiten nach polizeilichen Wegweisungen ein, können von Betroffenen aber auch direkt kontaktiert werden.

Obsorgerecht von Amts wegen einschränken

Um die Minderjährigen in Fällen häuslicher Gewalt künftig besser zu schützen, gelte es, "sie bei Gefahreneinschätzungen miteinzubeziehen", forderte Logar. So etwa, wenn der Gewalttäter, wie in dem vor dem EGMR verhandelten Fall, auch gegen sie Morddrohungen ausgestoßen habe. Behörden und Gerichte müssten "von Amts wegen" und "rasch" prüfen, ob für die Kinder eine Gefahr besteht, und gegebenenfalls "sofort" die Besuchs- und Obsorgerechte des Gewalttäters einschränken.

Derzeit liege das voll in der Verantwortung der erwachsenen gewaltbetroffenen Person, "allermeist die Mütter".

Annäherungsverbot bei Schulen und Kindergärten

Hier gelte es außerdem, dem Betretungsverbot, das über Gewalttäter etwa auch für Kindergärten und Schulen ausgesprochen werden kann, ein Annäherungsverbot beizufügen. Zur Zeit könne nichts dagegen unternommen werden, wenn sich etwa weggewiesene Väter vor dem Schul- oder Kindergartentor aufstellen und das Kind abzufangen versuchen.

Überhaupt, so die Interventionsstellenleiterin, müsse die Hilfe für Kinder in solchen Fällen "familienfreundlicher" organisiert werden. Aktuell hätten die Mütter – oder Väter – im Fall von Trennung und darauffolgenden Obsorgeangelegenheiten in den ersten ein bis zwei Wochen bei verschiedenen Stellen bis zu 15 Anträge zu stellen. Logar: "Das sollten wir den Betroffenen ersparen und unsere Hilfen koordinieren."

Zudem müsse die Prozessbegleitung für Kinder ausgeweitet und weit großzügiger finanziert werden, vom psychosozialen auf den zivilrechtlichen Bereich – also etwa auf Sorgerechtsverfahren.

Kritik an der Familiengerichtshilfe

Scharfe Kritik kam von Andrea Czak vom Verein feministischer Alleinerzieherinnen (Fem.a) an der Kinder- und Jugendhilfe sowie an der Familiengerichtshilfe, in deren Rahmen Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen sowie Psychologen und Psychologinnen die Familiengerichte in Obsorge- und Kontaktrechtsverfahren unterstützen.

Seit Einführung des gemeinsamen Sorgerechts im Jahr 2013 habe sich in deren Wirkungskreis ein vielfach die Aggressoren schonendes System aufgebaut, sagte Czak. Berichte von Müttern über Gewalt durch den Kindesvater würden "verharmlost", Trennungswillige beiderlei Geschlechts rasch der Manipulationsversuche bezichtigt. Verweigere ein Kind Kontakte mit einen Elternteil, so stehe der Vorwurf der "Bindungsintoleranz" gegen den anderen Partner im Raum; die Gründe des Kindes für sein Verhalten würden wenig ernst genommen.

Czak forderte eine rasche Weiterbildung der Kinder- und Jugendhilfe- sowie der Familiengerichtshilfe-Mitarbeiter im Erkennen von Manifestationen psychologischer und körperlicher Gewaltausübung. (Irene Brickner, 17.6.2021)