Jetzt wird es stressig. Stefan Knöpfer klemmt sich das Sackerl mit altem Brot unter den Arm und läuft über die Straße. Bei seinen Ziegen löst das den Fluchttrieb aus: Sie lassen von den Büschen ab, von denen sie Blätter gezupft haben – und laufen Knöpfer nach. Border Collie Robin treibt von hinten an und hält die Herde beisammen. Es ist der gefährlichste Teil von Knöpfers Job als Ziegenhirte: Die zehn Geißen und fünf Böcke über die Landstraße zu bringen – auch weil die Stelle unübersichtlich ist und etliche Autofahrer hier zu schnell unterwegs sind. "Ich versuche schon lange, ein ‚Achtung, Viehtrieb‘-Schild zu bekommen", sagt der 36-Jährige. Bis jetzt erfolglos.

Knöpfer lässt die Ziegen immer ein bisschen fressen, geht dann weiter voran und ruft "Ziiiegen, zick, zick, zick!".
Foto: Christian Fischer

Das liegt vielleicht daran, dass es keine große Lobby gibt. Das Hirtentum ist in Niederösterreich so gut wie ausgestorben. Knöpfer will das mit seinem Verein Hirtenkultur ändern. Acht Mitstreiter sind im Osten des Landes vernetzt. Im Westen ist es noch üblich, dass Menschen mit Viehherden herumziehen – aber "das Hirtenwesen im alpinen Raum ist eigentlich nicht zu vergleichen mit dem im Flachland", sagt Knöpfer. Straßen muss man etwa in den Bergen eher nicht überqueren. Das ist im niederösterreichischen Ternitz anders.

"Ziiiegen, zick, zick, zick!"

Auf der anderen Straßenseite angekommen, stürzen sich die Ziegen auf das Grün der Büsche. Einige stellen sich auf die Hinterbeine, um die saftigsten Blätter in der Höhe zu erwischen, die Böcke reiben die behornte Stirn an Baumrinden, um ihr Revier zu markieren. Knöpfer lässt sie ein bisschen fressen, ehe er weitergeht und sie mit "Ziiiegen, zick, zick, zick!" ruft. Die Tiere folgen ihm, angelockt vom Brot in der Umhängetasche des Hirten. "Ist immer gut, sich bei der Chefin einzuschleimen", sagt Knöpfer und hält Phoebe, der Leitziege, ein Stück altes Schwarzbrot hin.

Ziegen können ganz schön schnell laufen, wenn sie motiviert sind.
Foto: christian fischer

Das Ziel der Herde ist eine Wiese, knapp eineinhalb Kilometer entfernt von dem alten Bauernhof, den Knöpfer und seine Freundin renovieren und wo auch die Ziegen ihr ständiges Zuhause haben. Den mobilen Elektrozaun hat der Hirte am Vormittag dort aufgestellt, jetzt treibt er seine 15 Ziegen im Zusammenspiel mit Hütehund Robin in die Koppel.

Zwei Tage werden die Wiederkäuer hier die Wiese abgrasen. Fressen ist der einzige Job von Phoebe, Flummi, Merlin und den anderen Ziegen. Sie werden weder gemelkt noch geschlachtet. Sie sind Landschaftspfleger.

Schmetterlingssex und Magerwiesen-Margarite

Die Wiese, die sie gerade bearbeiten, hat Knöpfer – in Cargo-Shorts und tätowiert – als Futterquelle gepachtet. Recht günstig, denn der Grundbesitzer ist froh, wenn das Gras an der mit Maschinerie schwer erreichbaren Stelle etwas eingedämmt wird. Ziegen eignen sich besonders gut, um die Artenvielfalt von Insekten und Pflanzen auf den Wiesen zu fördern: Anders als Schafe fressen sie das Gras nicht bis zum Boden hinunter, sondern sind durchaus "haklich", wie man hier sagt: Wenn ein Grashalm umgetreten ist, fressen sie ihn nicht. Und auch viele Blüten, wie etwa die Magerwiesen-Margerite, lassen sie stehen. Weil seltenere Arten neben dem widerstandsfähigen Gras plötzlich Platz haben, um sich breitzumachen, dient das eben auch der Artendiversität, sagt der Hirte.

Anders als Schafe fressen Ziegen das Gras nicht bis zum Boden hinunter, sondern sind durchaus haglich.
Foto: christian fischer

So wie die Bläulinge, die er beim Sex stören muss – sehr ungern natürlich, denn eigentlich freut er sich ja, dass die raren Schmetterlinge hier sind und sich vermehren. Aber sie paaren sich halt ausgerechnet auf dem Schild, das Spaziergänger davon abhalten soll, Knöpfers Ziegen zu füttern – und er muss es vom alten zum neuen Weideplatz bringen. Als der Hirte das Schild sanft schüttelt, fliegen die Schmetterlinge, immer noch am Hinterteil miteinander verbunden, davon.

1500 Euro vom Land

Bläulinge brauchen zum Überleben den Wiesenknopf, eine wild wachsende Staudenart. Weil Knöpfers Ziegen die letzten Tage auf dieser Wiese verbracht und das widerstandsfähige, hohe Gras gefressen haben, konnte sich der Wiesenknopf ausbreiten – und mit ihm die liebestollen Bläulinge. "Da sieht man, wie die Beweidung wirkt", sagt Knöpfer und stemmt zufrieden die Hände in die Hüften.

Die Ziegenherde drängt das hohe Gras mit ihrem Fressverhalten zurück.
Foto: christian fischer

Reich wird Knöpfer mit seinen tierischen Landschaftspflegern nicht: Wenn sie Wiesen im Naturschutzgebiet beweiden, erhält er dafür 1500 Euro pro Hektar und Jahr vom Land Niederösterreich. Sechs Hektar schaffen die Ziegen etwa. Er hat deshalb noch ein paar Nebenjobs: Mit dem Hund sucht er etwa auch tote Vögel oder befestigt Ringe an Vogelbeinen zum besseren Monitoring. Es sei ja auch nicht das Geld, warum er Hirte in Niederösterreich werden wollte: "Ich war immer schon viecherversessen." Er sei eigentlich ein Stadtkind, in Schwechat aufgewachsen – aber dort habe er noch den letzten Hirten kennengelernt, der mit seinen Schafen umhergezogen ist. Als es den nicht mehr gab, sei er betroffen gewesen.

Knöpfer lernte erst Innenarchitektur und Möbelbau, sattelte aber schnell auf Tierpflege um ("Ich hab gewusst: In einem Büro verrecke ich"). Er arbeitete in einem Bärenreservat, auf einer Greifvogelstation, zwischendurch auch für das Tierschutzprojekt einer jordanischen Prinzessin. Aber letztlich trieb es ihn zur Selbstversorgung, er kaufte mit seiner Freundin den alten Hof in Ternitz, wo sie ihr eigenes Gemüse ziehen, Hühner züchten – und eben die Ziegen.

Kopfstoß für die Rangordnung

Heute ist das erste Mal in diesem Jahr, dass Knöpfer über Nacht mit den Ziegen unterwegs ist – bis jetzt war es zu kalt, auch beim Wetter sind die Tiere ein wenig kapriziös. Nicht umsonst kommt der Begriff von "Capra", dem lateinischen Wort für Ziege. Wobei: Manche in der Herde sind weniger pingelig – je nach Rasse. Den Tauernschecken und den steirischen Schecken ist die Lage fast zu niedrig, sie kommen aus den Bergen. Den Kaschmirziegen wird wegen ihrer edlen Wolle schnell warm. Nur die robuste Bulgarenziege jammert nie. Jetzt, wo die Ziegen eingezäunt sind, hat auch Hütehund Robin Pause. Er bekommt ein Stück Schinken aus Knöpfers Jausenbrot.

Robin ist erst zehn Monate alt und muss noch viel lernen.
Foto: christian fischer

Währenddessen machen sich die Ziegen eine neue Rangordnung aus. Immer um diese Jahreszeit wird um die Hierarchie gekämpft – gut möglich, sagt Knöpfer, dass Phoebe dieses Jahr vom Thron gestoßen wird und Flummi die nächste Matriarchin wird. Immer wieder knallt es hinter ihm: Dann, wenn sich zwei Ziegen gegeneinander aufbäumen und mit den Hörnern voraus aufeinanderstürzen.

Showdown im Wald

Am frühen Abend öffnet Knöpfer den Zaun, um die Ziegen in den Wald zu führen. Sofort machen sich die Tiere wieder an die Blätter der Büsche, sie essen auch kleines holziges Gewächs. Dem Wald tue es gut, wenn er nicht zu sehr verbusche, erklärt der Hirte.

Im Wald fressen sich die Ziegen so richtig satt, sie mögen Blätter und auch Holziges.

Sein zehn Monate alte Hirtenhund Robin beobachtet die Herde aufmerksam. Border Collies arbeiten fast nur mit ihrem durchdringenden Blick. Als Ziege Flummi zurückstarrt, liegt kurz Spannung in der Luft wie bei einem Showdown in einem Italowestern. Robin wird unsicher, legt die Ohren an – und startet dann bellend auf die Ziege zu, die den Angriff mit gesenktem Kopf entgegnet. Robin weicht als Erster zurück und jault vor Angst kurz auf – diese Runde geht an die Ziegen. Sie müssen sich mit ihrem Hund erst ausmachen, wer hier wen hütet. Der junge Rüde hat noch viel zu lernen. "Ich bin stolz auf ihn", sagt Knöpfer und drückt die Ziegen mit seinem Stock vom Hund weg, damit sie ihn nicht weiter sekkieren.

Schutz vor dem Wolf, aber "wer soll das zahlen"?

Beim Hirtentum geht es aber nicht nur um Artenvielfalt und Landschaftspflege. Auch in der Diskussion um die Rückkehr des Wolfs rückte der Beruf wieder stärker in den Fokus. Für den hierzulande lange ausgestorbenen Wolf ist eine unbeschützte Herde ungewohnt, der Trieb lasse ihn dann alle Tiere töten, sagt Stefan Knöpfer beim Abendessen auf der Wiese inmitten seiner Ziegen (es gibt natürlich Ziegenkäse von einem Kollegen).

Eine mobile Batterie speist den Elektrozaun.
Foto: christian fischer

Hirten könnten die Tiere schützen, allein schon der Geruch des Menschen würde die Wölfe von den Weideflächen fernhalten. "Aber wer soll das zahlen?", fragt er. Das Raubtier einfach wieder auszurotten sei jedenfalls keine Option. Hier in Ternitz ist ihm allerdings ohnehin noch nie ein Wolf untergekommen – nur Luchse und Goldschakale. Aber auch die trauen sich nicht in die Nähe von Hund Robin und dem Hirten.

Fertiggefressen

Als es in der Nacht zu regnen beginnt, steht Knöpfer auf und schaut, ob bei den Ziegen alles in Ordnung ist. Sie haben sich unter schützenden Baumkronen zusammengedrängt. Den Bereich dafür hat Knöpfer am Abend extra noch mit eingezäunt, als die Regenwolken schon sichtbar waren. Nach der unterbrochenen Nacht begutachtet Knöpfer die Wiese. Alles, was die wählerischen Ziegen fressen würden, wurde auch gefressen. Die Magerwiesen-Margeriten haben sie übrig gelassen. In ein paar Stunden wird er die Ziegen wieder auf seinen Hof treiben, wo die Landschaftspfleger auf ihren nächsten Auftrag warten.

Ziegen können erstaunlich schnell laufen. Angelockt werden sie mit dem alten Brot in Stefan Knöpfers Umhängetasche – von hinten achtet Collie Robin darauf, dass keines der Tiere ausbüchst. Füttern sollte man die Ziegen bitte nicht. Sie sind übrigens auch enorm heikel, wenn es um ihr Futter geht. (Sebastian Fellner, 17.7.2021)