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Buckelwale sind berühmt für ihren Gesang. Der Ruf des "einsamsten Wales der Welt" kann von seinen Artgenossen nicht gehört werden.

Foto: Getty Images / schmez

Eine weitläufige Bucht an der oberen Adria. Die Bora hat das warme Oberflächenwasser hinausgeblasen. In der aufsteigenden kälteren Schicht wird ein großer dunkler Fleck mit abertausenden sprudelnden Punkten sichtbar: ein Schwarm von Sardellen. Darüber kreisen hungrige Möwen.

Die Europäische Sardelle (Engraulis encrasicolus) schmeckt ihnen so gut wie den vielen Fressfeinden, darunter vor allem der Mensch. Encrasicolus, vom griechischen enkrasicholos, bedeutet so viel wie "mit Galle vermischt", wegen des bitteren Geschmacks, der sich, wenn die rohen Fische eingesalzen und in Öl gelegt werden, in eine nougatähnliche Süße verwandelt. Der geläufige Name Anchovis wird dieser Besonderheit kaum gerecht.

In seinem Buch Die Eloquenz der Sardine geht der französische Schriftsteller, Physiker und Hobby-Meeresbiologe Bill François auf die lange Beziehungsgeschichte von Mensch und Sardelle ein. Er schreibt von der "grenzenlosen Begeisterung der Römer für das Garum, jene Sauce, für die Sardellen in Salzlake eingelegt werden und die einen ‚sehr speziellen‘ Geschmack hat (die höfliche Version von ‚furchtbar eklig‘)".

Die Sardellen sind ihrerseits keine Kostverächter. Sie fressen mehr als ein Viertel ihrer eigenen Eier, weil sie sie nicht vom Plankton unterscheiden können. Nimmt man dazu das Faktum, dass jährlich mehr als sechs Millionen Tonnen – jede zweite Sardelle – aus den Weltmeeren gefischt werden, grenzt es an ein Wunder, dass sich die Bestände immer wieder erholen.

François hat das Buch geschrieben, um die ungeheure Vielfalt des Lebens und der Kommunikation im Meer bewusst zu machen, ebenso wie das vom Menschen verschuldete fortschreitende Verschwinden von Arten.

Die Weltmeere sind voller Geschichten

Das Buch beginnt und endet mit einer einsamen Sardine. Der kleine Bill hatte sie aus dem Meer gefischt und wieder freigelassen. Sie war, so vermutet der große Bill, einem Angriff von Thunfischen entkommen. François erzählt von der Schwarmintelligenz der Sardine: "Ohne einen Anführer oder eine tonangebende Gruppe, ohne Befehle von oben stimmen sich alle Sardinen im Schwarm miteinander ab und ziehen gemeinsam an einem Strang, selbst wenn dieser Schwarm Dutzende Kilometer lang ist."

François erzählt von dem Gedächtnis der Aale, das diese Ur-Fische ihre Eier dort ablegen lässt, wo sie sie vor Jahrmillionen abgelegt haben. Nur dass es inzwischen die Kontinentaldrift gegeben hat, weshalb die Aale jetzt tausende Kilometer zu ihren Laichplätzen schwimmen müssen.

François erzählt von der Brutpflege der Kraken, die bewirkt, dass diese intelligenten Geschöpfe ihr Wissen nicht an die nächste Generation weitergeben können. Denn die Mutter wacht so aufopferungsvoll über die Eier, dass sie vor Hunger und Erschöpfung stirbt, noch bevor die Larven schlüpfen. Deshalb muss jeder junge Krake die Welt allein erkunden.

François erzählt vom "einsamsten Wal der Welt", dessen Ruf erstmals 1989 von Unterwassermikrofonen aufgefangen wurde. Angesichts der tiefen Frequenz seiner Tonlage kann er von anderen Walen nicht gehört werden. "Das heißt, dieser Wal singt, spricht und ruft jahrein, jahraus nach seinen Artgenossen, ohne eine Antwort zu bekommen."

"Die Weltmeere sind voller solcher Geschichten ... In den einsamen Gesängen dieser scheuen Kreaturen sind die Wunder aufbewahrt, die sie nicht mit jedem X-Beliebigen teilen", schreibt der Autor. Sein Werk ist selbst ein kleines Wunder. Geschrieben von einem, der das Meer und dessen Bewohner liebt. Gedruckt in der Farbe, welche die Franzosen "bleu marine outre mer" nennen, das tiefe Blau der tiefen See draußen – dort, wo das Leben entstanden ist. (Josef Kirchengast, ALBUM, 19.6.2021)