Als jüngster von drei Söhnen von Maria und Dominikus Böhm kommt Gottfried Böhm am 23. Jänner 1920 im deutschen Offenbach zur Welt. Der Vater ist etablierter Kirchenbaumeister, die Inspiration ist gegeben, und so nimmt Gottfried Böhm 1942 an der TU München das Architekturstudium auf. Parallel dazu studiert er Bildhauerei an der Akademie der bildenden Künste München und lernt dort seine spätere Frau Elisabeth kennen.

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Das wohl bekannteste Schlüsselwerk Gottfried Böhms: der Mariendom in Neviges.
Foto: Getty Images

Bis zu ihrem Tod 2012 wird Elisabeth die Einzige sein, deren Rat Gottfried Böhm in seine Arbeit einfließen lässt. Und tatsächlich sind zahlreiche seiner Bauten ohne ihr Zutun nicht denkbar, viele zieren künstlerische Arbeiten aus ihrer Feder. Gemeinsam haben sie bis zuletzt fantastische Stadtutopien entworfen – nicht, um sie gebaut zu sehen, sondern um Architektur und damit Zukunft zu denken.

Wie wichtig die Familie ist, wird klar, wenn man sich Böhms Dankadresse bei der Verleihung des Pritzkerpreises 1986 in Erinnerung ruft. Er nennt da die Zusammenarbeit mit seinem Sohn Paul schon im ersten Absatz und betont die Traditionslinie des familiären Wirkens. Von der "Handschrift" seines Vaters Dominikus spricht er dort, dessen Arbeit "so etwas wie ein Maßstab" für das eigene Schaffen gewesen sei, von der "Geradheit" seiner Frau, der er auch im "Berufsleben viel verdanke", und davon, dass drei seiner vier Söhne den gleichen Beruf ergriffen haben wie er, seine Frau und sein Vater. Von der Kraft, aber auch der Schwere dieser dynastischen Linien legt Maurizius Staerkle Drux’ Dokumentarfilm Die Böhms – Architektur einer Familie aus dem Jahr 2014 eindrücklich Zeugnis ab.

Rabitzgewebe

In der Architektur strebt Böhm dabei stets dem Raum nach. Ein Sucher und Erfinder von Atmosphären, lange bevor der Begriff im Architekturdiskurs wieder populärer wurde. Schon sein erster eigenständig realisierter Bau ist getrieben von diesem Wunsch, einen eigenständigen Raumcharakter zu erzeugen. Für die kleine Kapelle St. Kolumba in Köln kann er sein im Selbststudium erarbeitetes und 1949 publiziertes Konzept der Gewölbedecken konkret anwenden.

Durch sogenannte Rabitzgewebe entstehen kissen- oder kegelförmige, doppelt gekrümmte Flächen, deren Leichtigkeit filigrane Stützen und dünne Wandquerschnitte ermöglichen. Ein wunderbarer kleiner Raum, dessen Wirkung durch die Umbauung von Peter Zumthors Kolumba-Museum merklich an atmosphärischer Dichte verloren hat. Böhm gefiel das bis zuletzt nicht: "Aus dem Stadtbild herausgenommen" sei die Kapelle auf diese Weise, die von Ludwig Gies entworfenen Chorfenster "ganz ins Abseits geraten".

Die ersten Bauten in den 1950er-Jahren sind geprägt von geometrischen Figuren und Körpern, deren jeweiliges Zusammenspiel aus Tragen und Lasten deutlich ablesbar ist und die den Geist der Nachkriegsmoderne sowie den Einfluss der eigenen USA-Reise 1951 spürbar in sich tragen. Bis zum Tod des Vaters 1955 arbeiten Gottfried und Dominikus Böhm gemeinsam, danach führt der Sohn die begonnenen Bauten im In- und Ausland zu Ende – und beginnt Anfang der 1960er-Jahre schließlich eine neue architektonische Serie kristallin anmutender, expressionistischer Sakralbauten.

Christi Auferstehung, Köln
Foto: David Kasparek

Die kegelförmigen Spitzdächer werden abgelöst durch massige Bauten aus Beton und Backstein, vielfach gebrochen und vielwinklig aufgetürmt. Die Pfarrkirche Christi Auferstehung in Köln zeigt sich schon von außen als ein solch gebautes Gebirge, dessen innere Raumschöpfungen bis heute eine ungeheure Kraft entwickeln. Immer neue Winkel und Ecken tun sich auf, wenn der Blick durch den Kirchenraum schweift, je nach Tageszeit lässt sich mehr oder weniger erkennen. Es folgen Projekte wie das Rathaus in Bergisch Gladbach, Bensberg, und die Wallfahrtskirche Maria Königin des Friedens nebst angeschlossenem Schwesternhaus in Velbert-Neviges.

In Neviges treibt Böhm den archaischen Raumeindruck auf die Spitze. Die Schwere des Materials Beton ist überall spürbar, dennoch türmen sich die Wände zeltartig weit nach oben, deren Höhlenhaftigkeit durch nicht sofort lokalisierbare Fenster gleichermaßen konterkariert wie die Atmosphäre durch ihren Lichteinfall vollendet wird. Je nach Sonnenstand streicht das Licht sanft an den rauen Oberflächen entlang oder wirft harte Strahlen quer durch den gesamten Bau. Diese Bauten verschaffen Böhm internationales Renommee, das ihm 1986 die höchste Weihe der westlichen Architekturwelt einbringt – den Pritzkerpreis für Architektur.

Pfarrkirche St. Gertrud, Köln
Foto: David Kasparek

In der Folge wird die Architektur gewissermaßen materiell entmythologisiert. Glas und Stahl ersetzen rohen Sichtbeton und Ziegel erneut, die Formensprache bleibt dabei bemerkenswert eigenständig. Bis 1974 entsteht in Köln-Chorweiler ein großes Ensemble sozialer Wohnbauten, dessen Balkone, Erker und Laubengänge farbenfroh und raumbildend – gerade aus heutiger Sicht – für diese Bauaufgabe wünschenswert sind.

Entwurf mit Kohle

Mit dem Konzept des "eingehausten Stadtraums" realisiert er öffentliche Bauten, die Haus und Stadt auch im Innern zu verzahnen suchen, etwa das Diözesanmuseum in Paderborn oder der Verwaltungsbau für Züblin in Stuttgart. Ob Büro- oder Bürgerhaus: Böhm experimentiert mit dem Element der Halle, die durch Treppen und Brücken überspannt und durchkreuzt wird. Gemeinschaftsräume und Wartezonen sind taghell, unter Glasdächern vor Wind und Wetter geschützt und lassen innerhalb des Hauses Begegnungen zu, wie wir sie sonst von Straße und Platz kennen.

So unterschiedlich die Bauten im Laufe der Jahrzehnte formalästhetisch waren, so sehr gleichen sich die Entwurfszeichnungen, meist mit Kohle und kräftigem Strich, aus denen schon der Wunsch nach einem jeweils charakteristischen Raumeindruck spricht. Ein Streben, das Gottfried Böhm im Rahmen der Verleihung des Pritzkerpreises so zusammenfasst: "Ein Gebäude ist für den Menschen Raum und Rahmen seiner Würde, und dessen Äußeres sollte seinen Inhalt und seine Funktionen reflektieren."

Am Ende, so bekannte er im Interview anlässlich seines 100. Geburtstags gegenüber dem Kölner Domradio, wurde "alles so schwierig, auch das Denken". Am 9. Juni ist Gottfried Böhm im Alter von 101 Jahren in Köln gestorben. (David Kasparek, 20.06.2021)