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Unschuldig und weiß, wahrhaftig und echt, so stehen die Alpen, in ihrer Tradition wie kaum eine andere Landschaft, für heile Welt und Natur.

Foto: Picturedesk.com / Westend61 / Manuel Sulzer

Gegen Ende des schlimmsten Kriegsschlachtens aller Zeiten befahl der kleine Mann ein Verteidigungskonzept, das sogar für sein getriebenes Gehirn unrealistisch gewesen sein musste, als Groteske jedoch ungeahntes Eigenleben entwickelte. Festungen, so gab der Gröfaz vor, hätten den Vormarsch der Alliierten so lange aufzuhalten, bis Wunderwaffen eine Wende brächten.

Kesselschlachten wurden es, die der Armee des Menschheitsverbrechers Menschenopfer und Materialverluste in Zahlen beibrachten, als handelte es sich um Selbstvernichtung. Seine Festungen fielen alle. Mit Ausnahme der vorgeblich gewaltigsten, der Alpenfestung, die als einzige von Anfang an Erfindung gewesen war. Propaganda, um das Volk bei der Stange zu halten.

Bis der Sicherheitsdienst der SS den Bericht eines offenbar unter Informationsnotstands leidenden US-Agenten abfing, in dem von angeblich realen Bauten und Bunkern die Rede war, woraufhin, zum Ärger von Hitlers Generälen, unter Zuhilfenahme abkommandierter Zwangsarbeiter Baumaßnahmen einsetzten, die den Fake anhand realer, gut sichtbarer Befestigungen untermauerten.

Werner Bätzing, "Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft". 38,– Euro / 484 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag 2015
Cover: C.H. Beck

Illusionsort Alpen

So wenig die Alpenfestung je verteidigt wurde, so wenig wurde sie erobert. Die Alliierten machten mangels gebirgstauglicher Truppen in den Tälern halt. Die Geschichte der Alpenfestung endete im Leerlauf einer Farce. Just am Ort ihrer letzten Illusion genügten alliierte Geduld, Fingerspitzengefühl und die normative Kraft des Faktischen für die versprengten Reste Hitlers machtloser Mannen.

Dem Illusionsort Alpen war dies in keiner Weise abträglich, im Gegenteil, womöglich gab ihm das als Projektionsort erst den letzten Schliff. Unschuldig und weiß, wahrhaftig und echt, so stehen die Alpen, in ihrer Tradition wie kaum eine andere Landschaft, für heile Welt und Natur.

Wie sehr Ersteres nicht bloß Illusion, sondern oftmals bewusstes Ablenkungsmanöver ist, ahnen zumindest diejenigen, die Statistiken zu Unzucht, Gewalt in der Ehe, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Kfz-Unfällen oder Kindesmissbrauch nicht vollends verdrängen oder zumindest über jenes Maß an Geschichts- und Gesellschaftsverständnis verfügen, das hinter den fernseh- und werbefoldertauglichen Klitterungen des Volkstümlichen das Unheimliche selbst erkennt.

Konjunktur des Natürlichen

In welcher Konsequenz der Begriff Natur selbst nur Behauptung ist, nehmen hingegen sogar kritische Geister kaum wahr, verdrängen es oder halten daran, vom Bioladen bis zum Autoverzicht, vom Bauchnabelsingen bis zum Baumumarmen, umso mehr fest, je verderbter ihnen die Welt erscheint.

Die Mountaineers, "Bergsteigen. Das große Handbuch". 41,20 Euro / 624 S. Riva-Verlag, 2018

Entsprechend atemberaubende Höhen erreicht die Konjunktur des Natürlichen nicht erst heute. Alternative Ernährung, alternative Medizin sowie Rückzugsfantasien, befeuert von einer Sehnsucht nach dem vermeintlich Ursprünglichen, lassen in bergigen Gebieten nicht nur Immobilienpreise, Grundstücksspekulation, kurzsichtige Flächenwidmungen sowie ständig neue Chaletdorf-Archipels ins Kraut schießen, sondern treiben auch die Absatzzahlen des gesamten Outdoorsegments der Sport-, Freizeit- und Bekleidungsindustrie in ungeahnte Höhen.

Unerschrockener Wegweiser

Längst weckt die Hightech-Wetterfestigkeit auf den städtischen Fußgängerzonen verlässlich den Anschein, bereits an der nächste Ecke führte die Route aller unausweichlich in eine Wildnisnatur voller Abgründe, Unwetter und Unwegsamkeit.

Als unerschrockener Wegweiser dient die Ratgeber- und Erlebnisliteratur und füllt die Regale im Buchhandel: Be wild, Sehnsucht Alm, Glücksformel Wandern, Bergsteigen – Das große Handbuch, Survival-Guide für echte Kerle, Vom Glück des Wanderns. Eine philosophische Wegbegleitung, Die Kunst des stilvollen Wanderns oder Wild Swimming Alpen – eine Liste, ebenso beliebig wie austauschbar, welche Titel auch immer in die Auswahl kommen, versprechen sie am Ende doch nur ein und dieselbe Illusion der Natur als das große Andere, erzählen vom Schoß der Mutter Erde, vom strengen Vater Berg, vom Lied der Stille und der Kraft des Einfachen. Kein Wunder und auch keine Kunst, dass der Digitalmoderne die Ohren schlackern.

Zuspitzung

Die Pandemie spitzte all dies noch einmal zu, wiewohl manchen dieser Entwicklungen praktische Züge nicht abzusprechen sind. Der aktuelle Zulassungsboom diverser Camper-Modelle etwa wäre angesichts der Erfahrungen der letzten eineinhalb Jahre nur zu verständlich. Dementsprechend groß ist auch die Freude im Marktsegment jener meist kleinen, jungen Firmen, deren Spezialgebiet im Umbau von Transportern, Kastenwägen oder ähnlichen Fahrzeugen liegt.

Stephen Graham, "Die Kunst des stilvollen Wanderns. Ein philosophischer Wegweiser". 16,– Euro / 224 Seiten. Harper Collins, 2020
Cover: HarperCollins

Manch einer dieser Firmengründer erzählt im Vertrauen von seltsamen Widersprüchen. Einerseits komme man mit dem Produzieren wie mit dem Vertrösten und manchmal gar dem Abwimmeln von Neubestellungen kaum nach, andererseits könne er nur den Kopf darüber schütteln, wie unbenutzt die meisten Modelle, bekomme er sie später etwa für einen Zusatzumbau oder Änderungswunsch wieder zu Gesicht, just an jenen Stellen oder Verschleißteilen aussähen, die doch eigentlich von ihrem tatsächlichen Einsatz als Hideaway verraten müssten. Stattdessen stünden sie in Wirklichkeit meist als geparkte Träume herum.

Geparkte Träume

Genügt Natur denn bereits als Vorstellung? Oder ist sie gar nichts anderes? Beides müsste mit Blick auf die Alpen verneint werden. Keine Landschaft der Welt zieht alljährlich mehr Menschen an. So zentral wie kein anderer Gebirgszug der Erde stehen sie in der Mitte des Kontinents.

Ob Nizza, Monte Carlo, Turin, Mailand, Laibach, Wien, München, Zürich, Basel, Genf, Lyon oder Grenoble, die Alpen sind aus all diesen Ballungsräumen und Metropolen innerhalb von zwei, drei Autostunden erreichbar. Kein Wunder, dass auch das Bild der Alpen ein urbanistisches ist. Blick, Perspektive und Bildinszenierung von Bergseen, schroffen Gebirgsspitzen, Gletscherflanken, Bergwiesen, Almen, Gebirgsbächen gehören allesamt zum Genre der staunenden Idyllisierung des Erhabenen.

Nächster und vielleicht einziger Verwandter solcher Darstellung ist schon der Himmel selbst, als Deckenmalerei in den barocken Kuppeln katholischer Kirchen.

Andreas Paul Kaiser, "Glücksformel
Wandern. Wie Schritt für Schritt gute
Gefühle entstehen". 20,60 Euro / 192 Seiten. Pietsch-Verlag, 2021
Cover: Pietsch

Wein, Champagner und Tabak

Dabei müsste bereits die Tatsache stutzig machen, dass es im vorherrschenden Alpenbild kaum je um den Menschen selbst geht, schon gar nicht um dessen Arbeit. Doch stutzig macht in dem seit gut eineinhalb Jahrhunderten zur Selbstverständlichkeit gewordenen alpinen Naturideal nicht einmal, dass just in den längst zum Inventar des Alpinistischen zählenden Alpenvereinshütten in den ersten Jahrzehnten großstädtisches Interieur dominierte, ganz zu schweigen vom entsprechenden Gestus alpiner Pioniere wie etwa Edward Whymper, Erstbesteiger der Grandes Jorasses und Erstbezwinger des Matterhorns (1865), der sich stets Wein, Champagner und Tabak zum Gipfel tragen ließ.

Entsprechend mühselig waren diese Besteigungen, nicht wenige endeten katastrophisch. Heute hingegen gilt nicht zuletzt der exzentrische glamouröse Blick der Briten auf die Alpen als Inbegriff von Leichtigkeit. Im Ploppen der Champagnerkorken und dem Hochprickeln in den gefüllten Gläsern öffnet sich all das, was in den Alpen Projektionsraum ist. Erhabenheit als Bild von Natur.

Idyllisierung

Sei es Be wild, die Glücksformel Wandern oder der Survival-Guide für echte Kerle – dass in Zeiten der Pandemie und erst recht in ihrem Abebben gegen derartige Idyllisierung kein Kraut gewachsen ist, zeigt sich nicht allein an der Anziehungskraft der Erlebnis-, Erfahrungs- und Ratgeberliteratur, sondern weit einschneidender, wo das Schwärmen auch die Feuilletons befällt.

Wenn der Bauch glückselig an Mutter Erde gedrückt wird, in Sätzen voller Präsenspathos, packt einen kalter Schrecken. Immerhin geschieht es in einer Sprache, in der etwa Elfriede Jelinek, Franz Innerhofer oder Christine Lavant die politischen, historischen und sozialen Schlagschatten von Natur und der Hegemonie ihrer Idyllisierung nicht bloß umrissen, sondern buchstäblich alphabetisierten. Nur um jetzt wieder in die Ahs und Ohs einer Restauration der großen klebrigen Wörter zurückzufallen: Mutter Erde.

Albert Kitzler, "Vom Glück des Wanderns. Eine philosophische Wegbegleitung". 17,– Euro / 272 Seiten. Droemer-Verlag, 2019

Die Regression darin liegt offen, griffig genug für Gegenwartsbefunde à la "Biedermeier goes Outdoor". Was erzählt es? Indem angesichts der Beschwörungen des Natürlichen umso unsichtbarer bleibt, dass es nichts als Natur ist, die als Virus auf Besuch kommt. In mancherlei Sinn sogar die eigene. Um das zu verstehen, lohnte es sich, Dürrenmatts Besuch der alten Dame wieder zu lesen oder Der Mensch erscheint im Holozän von Max Frisch – als nicht nur alpenländische, sondern ebenso naturtheoretische wie letztlich virologische Grundlektüre.

Von den ersten wie den letzten Dingen schreibt Frisch. Sein Held mit dem Namen Geiser, Witwer und dauerhafter Bewohner eines ehemaligen Zweitwohnsitzes im Tessin, reagiert buchstäblich klaustrophobisch, als Dauerregen und Gewitter sein abgelegenes Tal allmählich von einer Welt, die man in solchem Zusammenhang meist Außenwelt nennt, abschneiden.

Er beginnt, Listen seiner verbliebenen Vorräte wie ihm noch erinnerliche physikalische und mathematische Gleichungen zu notieren, geht zu Gesteinsformationen über, schneidet die Exzerpte aus und beklebt seine Zimmer damit, landet bei den Dinosauriern, wagt noch einen Ausbruchsversuch aus dem Tal, gelangt damit zwar über den Pass und auch weit genug auf die andere Seite, um die Kirchenglocken deutlich zu hören, und dreht dennoch wieder um. Wenige Tage später redet er wirr, zumindest empfindet das die Außenwelt so.

Was sucht der Mensch?

Vielleicht ist nicht die Frage, was wir sehen, wenn wir auf die Natur blicken, sondern was uns darin anblickt. In den Alpen ist das, lange bevor es einen Begriff dafür gab, das Anthropozän selbst.

Frank Pratscher, "Be wild. Mikro-
abenteuer. 50 kleine Fluchten aus dem Alltag". 19,95 Euro / 256 Seiten. Pietsch-Verlag, 2020
Cover: Pietsch

Eine unter prekären Umständen, in jahrzehnte-, jahrhundertelangen Verfahren gestaltete Kunstlandschaft. Almen, Weiden, Äcker, mühsam der Naturwildnis abgerungen, den "montes horribiles", wie die Römer sie nannten, und auf Distanz, stets in den breiten Tälern verblieben, wie 1945 die Alliierten es taten. Die Römer lebten gut damit, trieben Handel mit den wenigen, die sich tiefer im Alpenraum angesiedelt hatten oder nomadisch herumzogen.

Heute ist der "Spielplatz Alpen", wie bereits Leslie Stephen, Präsident des britischen Alpine Club zu Zeiten Whympers, diese Landschaft letzter Abenteuer bezeichnete, überallhin zugänglich. Gleichzeitig verschwindet jene bäuerliche Bewirtschaftung, die als einzige die fragile Kulturlandschaft aufrechterhält.

Im Wald verschwunden

Werner Bätzing, der die Alpen seit langem als akribischer wissenschaftlicher Biograf begleitet, sieht zwei scheinbar gegenläufige Entwicklungen überhandnehmen: auf der einen Seite Entsiedelung, auf der anderen Verstädterung oder "Vervorstädterung", wie er dies mit Blick auf die Metropolen ringsum nennt. Letztere weckt zwar angesichts des Klimawandels bei manchen seiner Kollegen Szenarien wohltemperierter "gated communities" für vermögende Eliten, die sich vor der Hitze der Städte in kleinteilige alpine Siedlungsfestungen flüchteten.

Der Vorhang vor all dem Schönen ringsum jedoch fiele nur allzu schnell, sobald im Jahr 2050, wie Bätzing in einem Gespräch von 2019 mit der Zeit hochrechnet, jegliche relevante Landwirtschaft aus den Alpen verschwände. Binnen kürzester Zeit wären die Alpen in jenem Wald verschwunden, der sie bis zu Beginn ihrer Bewirtschaftungsgeschichte vor knapp tausend Jahren waren.

Nun naht der Sommer, auch in größeren Höhen werden die Schneemengen des Winters bald geschmolzen sein. Die Frage, ob Natur das Unberührte ist, bleibt. Gerade dann, wenn der Himmel so blau ist, dass seine Bläue zu dem Wenigen gehört, das auch ein Virus undeutlich wahrnimmt.

Eines, das als reine Natur das menschliche Genom bereits zu fünfzig Prozent ausmacht. Was sucht dieser Mensch, nicht erst im Anthropozän, in der Natur? Sein Spiegelbild allein kann es nicht sein. Dieser Täuschung sind bereits andere erlegen, in welchen Festungen auch immer. (Martin Prinz, ALBUM, 20.6.2021)