Ob Cornwall, London, Brüssel oder Genf: Auf allen Stationen seiner Europareise hat US-Präsident Joe Biden mal mehr und mal weniger offen kommuniziert, was tatsächlich auf seiner Agenda stand: nicht Europa, nicht die Nato, nicht einmal so wirklich Russland, sondern einzig und allein China. Der Rivale in Ostasien wächst in jeder Hinsicht, umso selbstbewusster verhält er sich und stellt den Anspruch, bald "Supermacht" zu sein.

Um dagegen gerüstet zu sein, reichte Biden jenen Verbündeten die Hand, denen sein Vorgänger Donald Trump noch die kalte Schulter zeigte. Die Nato erklärte China zur "systemischen Herausforderung", was Peking prompt als übertriebene "Bedrohungstheorie" zurückwies. Auch auf dem G7-Gipfel wurde ein härterer Kurs gegen China angekündigt, wenngleich zumindest Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel mahnte, man müsse im Umgang mit Peking "die richtige Balance finden". Es sei Rivale in vielen Fragen, aber gleichzeitig auch Partner für viele Fragen, erklärte sie.

Und selbst der schlagzeilenträchtige Gipfel mit Russlands Präsident Wladimir Putin stand genau genommen im Schatten der Rivalität mit dem Reich der Mitte. Biden, da sind sich zahlreiche Experten einig, wolle mit Moskau so wenig Probleme wie möglich haben, um sich außenpolitisch auf China zu konzentrieren.

Aber warum gibt es diesen Fokus auf den Giganten aus Ostasien? Ist das die neue Strategie der USA? Was bedeutet das für den Rest der Welt? Der STANDARD hat fünf Thesen dazu skizziert.

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Geht es nach dem Willen Pekings, sollen bald nicht mehr 50, sondern fünf Sterne den Ton angeben.
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  • These 1: China ist der große Rivale der USA – aber schon länger

Es mag neuartig gewirkt haben: US-Präsident Joe Biden ließ bei seiner Europareise kaum eine Chance aus, um China verbal zu attackieren. Er gab den Ton an, sodass G7, Nato und EU schließlich ins selbe Horn stießen und sich vereint gegen den "systemischen" Feind aus Ostasien stellten. Tatsächlich aber wird das Reich der Mitte in den USA schon länger als Großmachtkonkurrenz gesehen. "George W. Bush hatte sich noch auf den Nahen Osten konzentriert, aber spätestens als Barack Obama seinen außenpolitischen Fokus auf Asien gelegt hat, war klar: China ist der große Rivale", sagt Politologe Heinz Gärtner zum STANDARD.

Bereits in seiner ersten außenpolitischen Rede im Februar stellte Biden klar: Niemand dürfe mit den USA gleichziehen. Genau das hat Peking aber vor: Präsident Xi Jinping, den Biden im Wahlkampf als "Gangster" ("thug") bezeichnete, formulierte das Ziel, bis zum 100. Geburtstag der Volksrepublik im Jahr 2049 zur "Supermacht" aufsteigen zu wollen. Salopp formuliert geht es also um die Frage, wer künftig in der Welt den Ton angeben wird.

Und während Donald Trump mit seiner Außenpolitik à la "America first" Verbündete vergraulte, will Biden genau diese um sich scharen. Das ist auch die Strategie, die Scott Kennedy vom US-Thinktank Center for Strategic and International Studies empfiehlt. "Um Chinas wachsenden Einfluss auf der Welt einzugrenzen, müssen die USA Allianzen aufbauen, anstatt allein zu handeln", sagte der Experte dem Sender CNBC.

Europa zieht zögerlich mit. Auch wenn im Jänner in einer Umfrage des European Council on Foreign Relations 60 Prozent der befragten Europäer meinten, man solle im Konflikt USA-China neutral bleiben.

Seit etwa 120 Jahren sind die USA eine Weltmacht. Wie lange noch?
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  • These 2: Das Tempo des chinesischen Aufstiegs beunruhigt die USA

Es gibt viele Gründe, um China zu kritisieren: die Repressionen gegen die Uiguren – manche sprechen bereits von einem Genozid –, das rigide Vorgehen gegen die Demokratiebewegung in Hongkong oder der ungeklärte Ursprung des Coronavirus, um nur einige zu nennen. Das alles aber, so Gärtner, seien nur "Nebengeräusche, die man propagandistisch nutzt, eine ideologische Absicherung". Jede Großmacht braucht ein Wertesystem, das sie abstützt: Im Kalten Krieg war es Kapitalismus gegen Kommunismus, nun heißt es Demokratie gegen Autokratie. Im Zweifel sind den USA Werte aber weniger wichtig als Machtabsicherung. Und um Letzteres dreht sich alles: "Die USA haben panische Angst davor, als Weltmacht abgelöst zu werden", sagt der Experte.

Es ist der schon lange prognostizierte Aufstieg Chinas, der in Washington Sorgen bereitet. Die Militärausgaben entsprechen – noch – nur einem Drittel des US-Etats, sie sind aber in den vergangenen zehn Jahren um mehr als 80 Prozent gestiegen. In anderen Ländern versucht Peking, mehr und mehr an Einfluss zu gewinnen – nicht immer, aber oft genug mit Erfolg. Auch in internationalen Organisationen wie der Uno und der WTO versucht es verstärkt, die Richtung vorzugeben. Im UN-Menschenrechtsrat etwa, in dem China seit Oktober 2020 sitzt, will es eine Peking-gefällige Umdeutung der Menschenrechte durchsetzen.

Politisch wie militärisch ist Peking noch bei weitem nicht auf Augenhöhe mit Washington. Zur Veranschaulichung: Die USA haben rund 800 Militärbasen im Ausland, China lediglich eine (in Dschibuti). Aber es ist der Anfang einer Konstellation, wie es sie schon oft genug in der Menschheitsgeschichte gab: Der Aufsteiger fordert den Hegemonen heraus.

Tiktok ist einer von vier chinesischen Sponsoren der Fußball-Europameisterschaft.
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  • These 3: China holt vor allem dort auf, wo es den USA wehtut

Es ist nur ein Detail, aber dennoch von symbolischer Bedeutung: Von den zwölf Hauptsponsoren der Uefa-Fußball-Europameisterschaft kommen vier Unternehmen aus China: Da ist Hisense, das auf Haushaltsgeräte spezialisiert ist, die Online-Zahlungsplattform Alipay, der Smartphone-Hersteller Vivo und die Kurzvideo-Plattform Tiktok. Die vier Unternehmen symbolisieren den Aufstieg von Corporate China in den vergangenen 20 Jahren. Von den 1000 Unternehmen mit der höchsten Marktkapitalisierung der Welt kommen heute 160 aus China. Das ist viermal so viel wie im Jahr 2000. Neben klassischen Industriekonzernen und Banken streben vor allem Technologieunternehmen auf.

Dabei helfen China zwei Faktoren. Neben einem gewaltigen Heimatmarkt – im Land leben 1,4 Milliarden Menschen – haben sich chinesische Firmen dort entwickelt, wo in den vergangenen 20 Jahren das Geschäft gewachsen ist: Nicht umsonst ist Huawei binnen weniger Jahre zu einem der größten Smartphonehersteller geworden und gilt Alibaba mit Amazon als größte Online-Handelsplattform. China gilt aber auch in der Solartechnologie inzwischen als führender Hersteller.

Die USA fühlen sich ob dieser Fortschritte Chinas zunehmend herausgefordert. Noch sind die USA die unumstrittene Technologie-Supermacht. Doch China will in den kommenden Jahren noch mehr in Forschung und Entwicklung investieren. Dem Land bleibt keine andere Wahl: Wegen des stark gestiegenen Wohlstands steigen auch die Löhne. Allein auf Preiswettbewerb zu setzen funktioniert für China nicht mehr, schreibt die Ökonomin Mary Lovely vom Washingtoner Peterson Institute, einem Thinktank, in einer Analyse.

Huawei ist eine der Firmen, die für den wirtschaftlichen Fortschritt Chinas steht.
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  • These 4: Die USA üben Druck aus, müssen aber aufpassen

Um Chinas wirtschaftlichen Aufstieg zu bremsen und die eigene Vormachtstellung zu halten, setzen die USA auf verschiedene Strategien: Donald Trump hatte einen Handelskrieg gegen Peking gestartet. Im Jänner 2020 wurde dieser offiziell auf Eis gelegt. Die USA erheben seither zwar keine zusätzlichen Zölle mehr, China musste dafür zusagen, mehr Waren aus den Vereinigten Staaten zu kaufen. Doch bis heute unterliegen zwei Drittel der chinesischen Exporte in die USA Einfuhrzöllen. Parallel versuchen Demokraten und Republikaner, die eigene Industrieentwicklung zu stärken: Anfang Juni wurde das größte Förderpaket dieser Art in der US-Geschichte fixiert.

Insgesamt wollen die USA 250 Milliarden Dollar über die kommenden Jahre in Technologien und Produktionskapazitäten investieren, um China auf Distanz zu halten. Flankiert wird diese Strategie mit internationalen Initiativen, um Partnerländer in Europa und Japan auf Linie zu bringen. Washington stößt hier durchaus auf Verständnis. So hat Großbritannien Huawei vom Ausbau des 5G-Internets im Land ausgeschlossen, Deutschland beschränkt die Nutzung von Technologien des Unternehmens.

Die USA können Druck aufbauen, müssen allerdings selbst aufpassen: Aktuell besteht eine gegenseitige Abhängigkeit zu China. 17 Prozent der Einfuhren in die USA kommen derzeit aus der Volksrepublik. China ist zugleich der drittwichtigste Exportmarkt für US-Konzerne. Eine solche gegenseitige Abhängigkeit hat mit dem früheren Systemrivalen der USA, der Sowjetunion, nie bestanden.

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Joe Biden, damals noch US-Vizepräsident, und Xi Jinping im Dezember 2013 bei einem Treffen in Peking. Nun will die US-Regierung ein neues Gespräch in die Wege leiten.
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  • These 5: Ein Militärkonflikt ist unwahrscheinlich – vorerst

Eine Zeitlang dominierte im Westen die Hoffnung, China werde sich politisch öffnen, sobald es verstärkt an der Weltwirtschaft partizipiert. Das hat sich als falsch erwiesen, spätestens als Xi Jinping 2012 in Peking an die Macht kam und einen härteren Kurs einschlug. Nun stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? US-Experte Scott Kennedy etwa hofft auf einen "friedlichen Wettbewerb, der das Beste in uns hervorbringt – auch wenn es Phasen gibt, in denen wir uns Sorgen machen müssen".

Andere wie Peter Rudolf von der deutschen Stiftung Wissenschaft und Politik prognostizieren eine Art Deglobalisierung: Es könnte zu einer Bipolarisierung des internationalen Systems führen, bei der die USA eine und China die andere Ordnung anführt, so Rudolf in einer Studie. Und dann müssten sich die Länder und Unternehmen dieser Welt wie einst im Kalten Krieg fragen: Welchem Lager schließe ich mich an?

Schließlich gibt es noch den Worst Case: einen militärischen Konflikt. Mittelfristig ist China dafür noch nicht gerüstet, langfristig will das kaum jemand ausschließen. Entzünden könnte er sich im Südchinesischen Meer, wo die Interessen Chinas und der USA direkt aufeinanderprallen. Viele Kriege, so Gärtner, haben mit kleinen Zwischenfällen angefangen. Zudem verweist er auf eine Studie des US-Politologen Graham Allison, der 16 Fälle der Geschichte untersucht hat, in denen es um Fall und Aufstieg von Großmächten ging. Lediglich vier davon endeten ohne Krieg. (Kim Son Hoang, András Szigetvari, 19.6.2021)