Wolfgang Mazal, Mitglied des Expertenrats für Integration, zeigt sich in seinem Gastkommentar skeptisch, was Änderungen bei der Staatsbürgerschaft betrifft. Er möchte "die Zuerkennung der Staatsbürgerschaft lieber als Endpunkt denn als Instrument der Integration sehen".

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Die SPÖ hat mir ihrem Vorstoß, den Erhalt der Staatsbürgerschaft zu erleichtern, für Aufregung gesorgt. Die ÖVP hält von den Plänen nichts.
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Ist es vertretbar, die Staatsbürgerschaft als Instrument der Integration zu sehen und daher vorzuschlagen, die Hürden für den Erwerb der Staatsbürgerschaft zu senken? Staatsbürger als kleinste formale Einheiten einer Gemeinschaft, die zur Gestaltung ihres Zusammenlebens formalen Regeln folgt: Deckt dieser Zugang jenes Verständnis von Staatlichkeit ab, das unser Zusammenleben prägt? Ist ein Staat nicht mehr als ein formal etabliertes Konstrukt von Menschen, die in einem Territorium leben?

Funktional ist ein Staat eine aus einer bestimmten Situation gewachsene Gemeinschaft, die andere Staaten als gleichwertig anerkennen. In der Staatswerdung überlassen andere Staaten einer Gruppe von Menschen die Verantwortung für einen Teil des Erdballs: Die Staatsbürgerinnen und Staatsbürger bilden jene Gemeinschaft, die diese Verantwortung trägt. Im Inneren akzeptiert und von außen anerkannt: Beides ist Ergebnis eines gemeinsamen Grundverständnisses der Positionierung der staatlichen Organisation gegenüber den Bewohnern und gegenüber anderen Staaten.

Ein stabiler Staat entsteht nicht durch Federstriche auf dem Zeichenbrett und durch formale Etablierung einer staatlichen Organisation, sondern als Ergebnis des Ringens von Menschen um eine gedankliche Gemeinsamkeit in Grundwerten und in der Ausbildung von Institutionen, die die Realisierung dieser Vorstellungen gewährleisten. Die Geschichte kennt viele Beispiele gescheiterter Staaten, die nicht aus dem gemeinsamen Willen von Bürgern, sondern als formale Konstrukte entstanden sind. Da spielt auch keine Rolle, ob die Bewohner das Wahlrecht haben!

"Ist ein Staat nicht mehr als ein formal etabliertes Konstrukt von Menschen, die in einem Territorium leben?"

Das Narrativ, das den Willen zur gemeinsamen Übernahme von Verantwortung für ein Territorium trägt, kann unterschiedlich sein: Manche Staaten definieren sich aus ihrer Geschichte, andere aus einer Absage an die Vergangenheit; mal ist es eine bestimmte historische Mission, mal ein bewusster Neuanfang. Jedenfalls bilden sich vor dem Hintergrund solcher Vorstellungen jene Grundmuster des Zusammenlebens, welche die Akzeptanz des Staates im Inneren wie im Äußeren gewährleisten. Staatsbürgerschaft erweist sich dabei als ein Ausdruck von Gemeinsamkeit im Verstehen der staatlichen Strukturen und Institutionen der Gemeinschaft.

Dies erklärt, warum das Konzept der Staatsbürgerschaft auch vom jeweiligen Staatsverständnis abhängt: Es ist kein Zufall, dass Staaten, die sich aus einem bewussten Neuanfang definieren, eher dem ius soli, also dem Geburtsortprinzip, folgen und den Zugang zur Staatsbürgerschaft niedrigschwellig gestalten. Staaten hingegen, die sich im Ringen um und mit der eigenen Geschichte entwickelten, ziehen tendenziell das ius sanguinis (Abstammungsprinzip) vor und sind in der Zuerkennung der Staatsbürgerschaft nicht großzügig.

Gerade für die österreichische Gesellschaft war es daher naheliegend, ein eher enges Konzept der Staatsbürgerschaft zu etablieren: Unser Staat ist als stabile Demokratie mit einer klaren rechtsstaatlichen Organisation ja Ergebnis einer durchaus konfliktträchtigen Geschichte, die zu einer überaus komplexen Feinstruktur von Institutionen und Regeln geführt hat, welche den friedlichen Ausgleich unterschiedlicher Interessengruppen im Inneren und damit die Anerkennung im Äußeren sicherstellen. Zahlreiche Fasern einer – im Guten wie im Bösen – reichhaltigen Geschichte bilden jenes Gewebe, auf dem sich unser politisches System mit Sozialpartnerschaft, Interessenausgleich, Neutralität, Selbstverwaltungskörperschaften usw. entwickelt hat. Dieses trägt eine vielfältige, aber doch gemeinsame Vorstellung von Österreich – seiner Gestaltung im Inneren und seiner Stellung in der Welt – und gewährleistet bei aller Fragilität jene Stabilität, die für die Akzeptanz des Staates unerlässlich ist.

Wille zur Gemeinsamkeit

Das ius sanguinis geht dabei von der Vorstellung aus, dass im Aufwachsen in diesem Erfahrungsraum der Wille zur Gemeinsamkeit in der Fortentwicklung dieser Feinstruktur des Zusammenlebens entsteht, in der wir unseren Staat erleben und leben. Nicht die Geburt, sondern die Begleitung durch Eltern als Staatsbürger soll das Verstehen der Gesellschaft und ihrer staatlichen Verfasstheit sicherstellen. Dies kann nicht durch kurzfristigen legalen Aufenthalt substituiert werden, es ist ein Sozialisationsprozess.

Ich sehe die aktuelle Debatte um die Staatsbürgerschaft daher als Aufforderung, darüber nachzudenken, welche Bedeutung Staatsbürgerschaft für die österreichische Gesellschaft hat: Versteht jemand, der Staatsbürgerschaft als rein formales Konstrukt demokratischer Partizipation sieht, die Feinstrukturen der österreichischen Gesellschaft, mit denen die Vorgenerationen die heftigen Konflikte einer an Gutem wie Bösem reichhaltigen Geschichte gelöst haben? Kann man ohne ausreichende Kenntnis und Erfahrungen in der österreichischen Gesellschaft an der Weiterentwicklung ihrer staatlichen Organisation demokratisch partizipieren?

Dass andere Länder andere Wege gehen, ist legitim; für Österreich möchte ich aber die Zuerkennung der Staatsbürgerschaft lieber als Endpunkt denn als Instrument der Integration sehen. Und für alle Staatsbürger sehe ich den Auftrag, sich jenes Wissen um die Feinstruktur der staatlichen Institutionen sowie um die für Österreich typischen Chancen und Grenzen des gesellschaftlichen Zusammenlebens anzueignen, das Voraussetzung für die Übernahme von Verantwortung als Wahlberechtigte ist.

Demokratie gelingt nicht deshalb, weil möglichst viele Bewohner eines Territoriums Staatsbürger sind, sondern wenn die Wahlberechtigten ein gemeinsames erfahrungsbasiertes Grundverstehen für die Strukturen ihrer Gemeinschaft haben. Daran gilt es zu arbeiten! (Wolfgang Mazal, 19.6.2021)