Vea Kaiser verteidigte als jüngste Jurorin der Runde am zweiten Lesetag einen Text über Tinder-Dating.

Foto: LST Kärnten/Johannes Puch

Hipsterisch ging der zweite Bachmannpreis-Lesetag los. Nicht nur wegen Philipp Tinglers aufgekrempelter Ärmel am Shonen-Knife-Band-T-Shirt – Twitter freuen solche Details; klischeesatt geriet auch Leander Steinkopfs Geschichte über einen missmutigen Mann auf der Hochzeit seiner Ex. Wiewohl in der Anlage schlicht, war das sehr gut und lustig erzählt: "Wir dachten uns, wenn wir Fleisch, Milch und Getreide weglassen, muss niemand auf irgendetwas verzichten." Die Jury fand das "geschliffen" bis "charmant". Nur Insa Wilke vermisste Radikalität, woraufhin Vea Kaiser ihr das vermeintliche Manko als Pointe erklärte: "Er ist so ein Spießer wie alle anderen."

Wie alle anderen will natürlich keiner sein, vor allem will in der Jurorenrunde aber niemand in einem Boot mit Philipp Tingler sein. Gibt es ein "Team Kaiser/Tingler"? Die Frage beschäftigte die selbstreferenziellen Jurydiskussionen am Freitagvormittag und wurde zum Running Gag. Wobei auch Tingler nicht in einem Team mit Kollegin Kaiser sein wollte. Deren "Was gibt’s Schöneres, als wenn uns Literatur zum Lachen bringt?" war ihm nämlich zu wenig diskursiv. Darin pflichtete Kollegin Mara Delius Tingler bei – "ohne mich zugleich in Ihr Team ..."

Komplexität im Text

Bei Anna Prizkau erzählte dann eine Frau aus dem Sanatorium über Migration und schwierige Familienverhältnisse. "Trickreich" und "kunstvoll" befanden die einen. Inhaltlich angetan, hegte die halbe Jury aber stilistisch Skepsis. Klaus Kastberger zettelte eine Debatte an: "Wie kommt Komplexität in Texte? Indem Vea Kaiser sagt, sie sieht sie darin. Oder der Text ist wirklich komplex. Oder er kommt uns komplex vor, weil er schwach ist und Leerstellen lässt, die er nicht füllt." Letzteres schien ihm hier der Fall.

Kindheitserinnerungen an die bäuerlichen Großeltern, Urlaub am Meer und Milchzähne arrangierte dann die Kärntnerin Verena Gotthardt. Von der "poetischen Beschäftigung mit Erinnerung" bis zu "hier wird Demut zelebriert" reichte das Lob. Auch der fast vollständige Verzicht auf das Wörtchen "ist" kam gut an. "Sehr viel Neues sagt mir dieser Text nicht", bremste Kastberger jedoch: "Ein einzigartiger Ton, aber die Form ist noch nicht gefüllt."

Tingler und Tinder

Beim Schweizer Lukas Maisel spielte Corona eine Nebenrolle: "Dieses Ellenbogending ist echt blöd, wollen wir uns nicht einfach umarmen?" Eigentlich erzählte Maisel von Liebe in Zeiten von Tinder. Kaiser und Tingler fanden ihn gut, andere fad, klischeehaft, begrenzt. "Der Text zeigt, wie wir leben. Wenn einige dafür zu alt oder verschlossen sind, tut mir das leid", so Tingler. Lebenswelten derer, die den Nervenkitzel des Hinweises "vor zwei Minuten online" kennen, und jener, die es nicht tun, stießen aufeinander.

Der Altersschnitt der Teilnehmer liegt heuer bei 37 Jahren, Fritz Krenn (63) ist der älteste. Der Grazer trug emphatisch eine liebevolle Schriftstellersatire vor. "Völlig von gestern", schmunzelte Wilke, "aber die Mittel wirken nach wie vor." "Pittoreske Komik", lobte Delius, Wiederstein wurde an heutige Literaturevents erinnert. Kaiser und Tingler ("Kindergeschichte") waren nun dagegen. Am Samstag lesen vier Autoren, am Sonntag ist Preisvergabe. (Michael Wurmitzer, 18.6.2021)