Peter Hacker warnt vor bösen Überraschungen im Herbst: Die Regierung habe die Covid-Pandemie voreilig abgesagt.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Wer Peter Hackers Büro besucht, den kann Fernweh packen. Reiseaufnahmen im Posterformat hat der Hobbyfotograf an die Wand gehängt – vom Vulkan Cotopaxi in Ecuador, vom Kolosseum in Rom, von einer wuchtigen Walflosse. Ob die Welt bald wieder offensteht? Wie nachhaltig Normalität zurückkehrt, hängt ein Stück weit von Politikern wie Hacker ab. Als Wiener Gesundheitsstadtrat hat der Sozialdemokrat eineinhalb Jahre gegen die Pandemie gekämpft. Zeit für eine Bilanz.

STANDARD: Die Regierung hat einen "Sommer der Lebensfreude" ausgerufen. Worauf freuen Sie sich?

Peter Hacker: Darauf, dass es nach eineinhalb Jahren ohne Wochenende und Feiertage wieder einmal einen Urlaub geben wird. Ich kann es kaum erwarten, meine neue Kamera in Italien warmzuschießen. Obwohl ich geimpft bin, werde ich mich aber regelmäßig testen.

STANDARD: Könnte die Delta-Variante des Virus nicht zum Spielverderber werden?

Hacker: Wir beobachten in England und in Portugal, wie diese ansteckendere Mutation trotz höherer Durchimpfungsrate als bei uns um sich greift – spätestens im Herbst kommt das auch auf uns zu. Umso mehr erstaunt mich der sorglose Tonfall, mit dem die Bundesregierung weitere Öffnungen angekündigt und die Pandemie quasi wieder einmal abgesagt hat. Die beschworene Lebensfreude wird es aber nicht auf Dauer spielen, wenn wir vergessen, dass wir in einer Pandemie stecken. Wir erleben gerade das Vorspiel zu einer vierten Welle.

STANDARD: Mit Lockdowns wegen überlasteter Spitäler als Folge?

Hacker: Um das zu verhindern, müssen zwei Manöver gelingen. Erstens müssen wir die Impfrate so weit nach oben jagen wie nur möglich. Die Regierung soll nicht so tun, als sei das schon erreicht.

STANDARD: Beim Impfen ist in Österreich aber gerade Wien Schlusslicht.

Hacker: Nur, wenn man die Rate an der Wohnbevölkerung misst. Das liegt daran, dass wir viele Pendler aus dem Umland mitgeimpft haben.

"Die Lebensfreude wird es nicht spielen, wenn wir vergessen, dass wir in einer Pandemie stecken": Hacker über die Regierungslinie
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STANDARD: Das wird durch Impflieferungen aus Niederösterreich ausgeglichen.

Hacker: Das ist vereinbart und wird laufend umgesetzt. Wir haben 120.000 Menschen aus Niederösterreich geimpft, das sind mehr als doppelt so viele wie umgekehrt. Dafür haben wir einen Teil der Impfdosen bereits bekommen – aber das ist nicht wichtig. Dem Virus ist egal, wo der Meldezettel liegt. Was die Regierung liefern kann, wird in jedem Land verimpft. In Wien starten wir Ende Juni einen Impfschwerpunkt für unter 30-Jährige, indem viele Zehntausende Termine frei geschaltet werden.

STANDARD: Und das zweite notwendige Manöver?

Hacker: Bis die nötige Durchimpfungsrate von 80 Prozent im September erreicht werden kann, müssen wir die Kerntugenden pflegen: Infizierte so früh wie möglich entdecken und in Quarantäne schicken. Das wird aber nicht gelingen, wenn mit Ausnahme von Wien überall die PCR-Tests, die bei infizierten Menschen ohne Symptome viel eher anschlagen als Antigentests, zurückgefahren werden. Man hätte für den Besuch von Bars und Discos entweder Impfung oder PCR-Test vorschreiben können. Das wollte ich mit dem Gesundheitsminister in Ruhe diskutieren – doch der Kanzler wollte offenbar nicht warten. Wenn wir nicht detektieren, werden wir eine böse Überraschung erleben – so wie das Bundesländer, die nicht so viel getestet haben wie Wien, im vergangenen Herbst und im Frühjahr erlebt haben.

STANDARD: Die zweite Welle hat Sie doch selbst kalt erwischt. Weil man mit dem Virus umzugehen gelernt habe, gebe es keinen Grund für einen neuen Lockdown, haben Sie Anfang Oktober gesagt – kurz darauf explodierten die Infektionszahlen. Wie kam es zu dieser Fehleinschätzung?

Hacker: Ich habe immer gesagt, wir brauchen keinen Lockdown, wenn es die richtigen Spielregeln gibt. Die haben wir, als Volk von neun Millionen Menschen, nicht eingehalten.

STANDARD: Hat da nicht gerade auch die Wiener Regierung die Vorbereitung verschlafen? Die Teststraßen waren im Herbst ebenso überlastet wie das Meldesystem via 1450 und das Contact-Tracing. Erst im September ist Wien draufgekommen aufzustocken.

Hacker: Im Nachhinein gesehen hätten wir natürlich früher dran sein sollen, aber Faktum ist: Wir haben vorher nicht gewusst, was auf uns zukommt. Es gab noch nie zuvor eine Covid 19-Pandemie.

STANDARD: Dass im Herbst eine zweite Welle droht, war absehbar.

Hacker: Klar, ich gehörte zu denjenigen, die am meisten gewarnt haben. Wir stehen aber immer in Abhängigkeit vom Bund und können nicht allein agieren. Viele Manöver, die eigentlich Bundesangelegenheit wären, haben wir kurzfristig übernommen. Ordentliche Datenbanken, Contact-Tracing: Das ist nicht zwingend Aufgabe der Länder.

STANDARD: Sie haben sich doch oft viel lockerer gegeben als die Bundesregierung und trotz heikler Lage nach Öffnungen gerufen. Vor dem Weihnachtslockdown wollten Sie die Wirtshäuser aufsperren, vor dem Osterlockdown zumindest die Gastgärten. Haben Sie das Virus unterschätzt?

"Es ist zu bezweifeln, dass das Personal in Spitälern für diese Leute bereitwillig Überstunden macht": Hacker über Impfunwillige
Foto: Heribert Corn

Hacker: Sicherlich nicht. Ich bin nur gegen Schwarz-Weiß-Malerei – und für die Grauschattierung dazwischen. Öffnungen sind eine Frage der Regeln. Locker sein heißt, auf diese nicht zu verzichten. Wenn ich in den Wirten Verbündete habe, muss ich auch trotz steigender Zahlen nicht alles zusperren.

STANDARD: Wenn es nach Ihnen gegangen wäre: Hätten Sie sich einen Weg wie Schweden, das weniger auf Vorschriften setzte, vorstellen können?

Hacker: Das schwedische Modell ist mehr Fantasie in unseren Köpfen als Strategie der Schweden selbst: Es wurde immer so interpretiert, wie es gerade in die jeweilige Argumentation gepasst hat. Bewundernswert finde ich, wie die nordischen Staaten solche Fragen ohne parteipolitische Manöver abhandeln. Aber den unvorsichtigen Umgang mit den Alten- und Pflegeheimen hätte ich nie mitgetragen. Da waren wir viel klarer. Wir haben de facto die Heime mitsamt den Bewohnern zugesperrt. Die Restriktionen waren in Wahrheit ungeheuerlich – aber die richtige Entscheidung. Was die ältere Bevölkerung betrifft, können wir eine sehr gute Bilanz ziehen.

STANDARD: In der zweiten Welle hatte Österreich mehr Tote als viele andere EU-Staaten zu beklagen – gerade in Alten- und Pflegeheimen. Ist da eine Erfolgsbilanz wirklich angebracht?

Hacker: Das waren aber nicht nur Menschen, die an Covid, sondern auch mit Covid gestorben sind. Das ist das ungelöste Problem an dieser Statistik. Unterm Strich sehen wir nur geringe Ausschläge bei der Übersterblichkeit. Es hätte definitiv schlimmer kommen können.

STANDARD: Wann ist die Pandemie vorbei?

Hacker: Wir wissen es nicht. Es kann gut sein, dass uns Sars-CoV-2 über viele Jahre begleitet. Ob es uns auch quält? Das hängt davon ab, wie stark das Selbstverständnis, dass man sich impfen lassen muss, noch wächst. Wer einen auf "Dann steck ich mich halt an" machen will, sollte bedenken: Es ist zu bezweifeln, dass das Personal in den Spitälern für diese Leute dann noch so bereitwillig Überstunden macht wie in den bisherigen Wellen. (Gerald John, 19.6.2021)