Seit Corona das Leben lahmlegte, verlagerte sich viel Geschäft ins Internet. Das lässt Debatten über liberalere Ladenöffnungszeiten neu aufflammen.

Foto: Imago

Wien – Würden Sie gerne sonntags einkaufen, und sind Sie bereit, auch am Sonntag zu arbeiten?" Wer sich in der Wiener Innenstadt mit diesen Fragen auf den Weg macht, kommt mit Antworten zurück, die konträrer nicht sein könnten. "Sie haben hier sonntags überall zu? Ja, sind denn eure Händler nach einem Jahr Corona nicht auf jeden Cent angewiesen?", wundert sich ein deutscher Urlauber, der mit seinem Rad auf dem Stephansplatz innehält und Abkühlung im Dom sucht. Offene Geschäfte seien für Bustouristen wichtig, die Wien für ein kurzes Wochenende streiften, meint er, ehe ihm seine Partnerin das Wort abschneidet und zum Weiterfahren drängt. Die einen wollen Kultur, die andere Shoppen, ruft sie ihm über die Schulter zu. Sie sei gegen Einkaufen am Sonntag. Dann höre auch das Maulen darüber auf.

"Sollte nicht jeder die Freiheit haben, selbst über seine Arbeitszeit zu entscheiden?", fragt eine Wienerin, während sie bei an einem Zeitungsstand Postkarten aussucht. Sie lebe in Frankreich und nutze den Sonntag vor allem für ihre Lebensmitteleinkäufe. So viele Menschen würden sich längst an anderen Tagen eine Auszeit nehmen, sagt sie. Und erinnert an jene, die allein ohne Familie und Freunde lebten. Für sie erfüllen belebte Innenstädte auch eine soziale Funktion.

"Atempause vom Konsumzwang"

In einer Gruppe an Jugendlichen wogen derweil Meinungen hin und her. Von einer Atempause vom Konsumzwang ist die Rede. Kurz innehalten könne man ja auch unter der Woche, entgegnen andere und erzählen von ihren Erfahrungen im Ausland.

"Wir genießen es, in Italien an sieben Tagen die Woche durch offene Geschäfte zu bummeln. Selbst am Sonntag arbeiten will keiner", bringt eine Tuchhändlerin nahe der Kärntner Straße den Zwiespalt auf den Punkt. Sie selbst war Wirtin und sei an widrige Arbeitszeiten gewöhnt. Für mehr Freiheit im Handel braucht es aus ihrer Sicht aber mehr Einkaufsflair. Überdrüssig sei sie all der Jungen, die "mit dem BMW der Eltern" ob der wenigen Parkplätzen im Zentrum spazieren fuhren. "Autos gehören raus aus der Stadt."

Harte Debatten um die im Vergleich zu anderen EU-Ländern restriktive Ladenöffnung in Österreich verstummen nicht. Im Fokus hitziger Gefechte steht vor allem Wien. Als einziges Bundesland bietet die Stadt Touristen keine freie Zone für sonntägliches Shoppen. Auch ist Wien eine der wenigen Metropolen der Welt, in denen im Handel am Samstag um 18 Uhr Kassaschluss ist.

"Touristen etwas bieten"

"Eine Hauptstadt muss Touristen etwas bieten", sagt der Angestellte einer jungen Modeboutique einige Schritte abseits des Grabens. Schöne Destinationen gebe es ja viele, sonntags einkaufen zu können, sei ein Grund für die Wahl des Urlaubszieles, ist er überzeugt und erzählt von erbosten Kunden, die sich ausgesperrt fühlten. "Vor allem Gäste aus dem arabischen Raum sind es gewöhnt, abends und sonntags einzukaufen."

"Ach, kommen S’ mir nicht mit den Touristen. Bei mir hat sich noch keiner aufgeregt", seufzt ein Branchenkollege ums Eck, der seit Jahrzehnten im Handel arbeitet. Unterschiedlichste Öffnungszeiten habe er erlebt. Ob kurz oder lang – der Umsatz sei stets gleich geblieben. "Wer sonntags aufsperrt, verliert Geschäft am Samstag."

Doch ist stärkere Liberalisierung nicht ein Hebel, um Kaufkraftabfluss ins Internet zu bremsen? Der Verkäufer zieht die Augenbrauen hoch und deutet in die noble Auslage. "Einen Anzug um 4900 Euro kauft man sich nicht bei Amazon."

Druck auf die Gehälter

Irgendwann werde der Handel in Wiens Innenstadt sonntags aufsperren müssen – daran hat Michael Pircher vom Schreibwarengeschäft Weidler keine Zweifel. Den Weg dafür heuer frei zu machen, wie es die Neos fordern, hält er für Unsinn. Die Stadt sei aufgrund der wenigen Touristen wie ausgestorben. Auch was die doppelten Gehälter für Sonntagsarbeit betrifft, dürften sich Handelsangestellte keinen Illusionen hingeben, sagt er. Die hohen Zuschläge seien für viele Betriebe nicht finanzierbar. Die Liberalisierung werde den Fachkräftemangel daher massiv verschärfen.

Pircher erinnert sich noch gut an die "goldenen Sonntage", die es einst in Österreich vor Weihnachten gab. "Es waren die stärksten Einkaufstage des Jahres." Auf die Gegenwart umlegen ließen sich diese jedoch nicht mehr. "Geschenke haben an Bedeutung verloren. Wer etwas will, kauft es sich sofort."

Für Mark Zimmermann, Verkäufer im Gramola, dem ältesten Musikgeschäft Österreichs, wäre dem Handel mit weniger "geschäftsschädigenden Demonstrationen" im Ersten mehr geholfen als durch längeren Verkauf. "Wir sind kein Fan offener Sonntage." Was Stammkunden, die bei ihm die große Mehrheit der Besucher ausmacht, vergräme, sei der Fleckerlteppich bei den Ladenschlusszeiten. "Seit den Lockdowns kennt sich keiner mehr aus."

Schwierige Grenzziehung

Tausend Arbeitsplätze und rund 90 Millionen Umsatz zusätzlich im Jahr würde eine Wiener Tourismuszone bringen, rechnen Befürworter vor. Gegner werfen die Frage ihrer Grenze in den Raum: Wien sei nicht Lech oder Velden. Was, wenn auch Einkaufszentren am Gürtel oder Randbezirke mit fünf Museen rechtlich Anspruch darauf stellten?

Was passiere im Ersten abseits des Hauptstroms der Touristen? Unzähligen Betrieben drohten mehr Kosten als Umsatz. Deswegen geschlossen zu halten verzerre wiederum den Wettbewerb. Vor allem aber müssten mit dem Handel Verkehr und Logistik am Laufen gehalten werden, gibt eine Geschäftsinhaberin zu bedenken. "Wer in der Innenstadt lebt, verliert Lebensqualität."

Einem Taxler, der am Kohlmarkt sein Auto poliert, käme mehr Bewegung gelegen. "Ich arbeite 16 Stunden am Tag, hatte seit vier Jahren keinen Urlaub." Als Unternehmer sei er natürlich für Liberalisierung. "In anderen Ländern geht’s ja auch."

Ein Fiakerfahrer mit etwas weniger PS schüttelt darob den Kopf. Der Sonntag sei der wichtigste Tag, um Touristen durch Wien zu führen. Nie und nimmer wolle er die Leut’ statt in seiner Kutsche in Geschäften sehen.

Am Michaelerplatz genießen zwei junge Frauen die Ruhe, die auch durch das Ende der Lockdowns nicht gestört wird. Lieber als in konventionellen Geschäften würden sie sonntags durch Märkte flanieren, sinnieren sie. Für sie bleibt der Österreicher "ein Gewohnheitstier, der am Samstag einkauft und am Sonntag mit der Familie im Grünen sitzt." (Verena Kainrath, 19.6.2021)