Von der "Langen Lacke" ist derzeit nicht viel zu sehen. Aber nur Zyniker würden sagen, dass das eh super ist, weil Ornithologinnen und Ornithologen so mehr Vögel auf engerem Raum beobachten können. Alle anderen kratzen sich am Kopf – und fragen, ob es nur am Wetter liegt, dass der Steppensee auf Pfützengröße geschrumpft ist, oder ob das doch ein Stück Klimawandel ist: Dass die "Lacke" im Sommer mitunter austrocknet, ist normal. In der Steppe kommt derlei vor. Sogar der Neusiedler See war schon "weg" (1865–1871) – kam aber wieder. Bisher.

Trotzdem diskutieren auch "Locals": Wetter oder Klima? Schließlich hat es im Seewinkel seit Pfingsten nicht geregnet.

Tom Rottenberg

Den Seewinkel kenne ich seit Jahren. Empfand ich es als Kind als Qual, in sengender Sonne endlos durchs Ödland zu schlurfen und so zu tun, als wäre mir irgendeine Trappe wichtiger als Lego, lernte ich später – über den Sport – die Region zu schätzen. Und zu lieben. Nicht zuletzt der Austria Triathlon (gemeinhin "Podo") zeigte mir, was dieses Eck Österreich kann. Landschaftlich – und als sportlicher Spielplatz: Ich bin gerne hier. Auch ohne Wettkampf: Schließlich nennt sich die Region "die größte Laufarena Österreichs". Mehr als 380 Kilometer ausgeschilderte Laufstrecken muss den Seewinklern erst jemand nachmachen. Radfahren geht natürlich auch. Wobei das nicht nur leiwand ist.

Tom Rottenberg

Falls Sie glauben, dass ich mich jetzt über pannonische Winde beschwere: falsch, ganz falsch. Klar fluche ich, wenn es sich in der Ebene anfühlt, als würde die Ebene aufgekantet. Aber Wind gehört dazu. Gerade am Neusiedler See.

Was mich nervt, ist die Tatsache, dass die Landschaft dort, wo es spannend, schön oder speziell wird, oft endet. Ja eh: Natürlich ist das nicht die Gegend, sondern der Weg. Zumindest dann, wenn man so unterwegs ist, wie ich es bis vor kurzem war: mit Renn- oder Zeitfahrrad.

Diese Babys können Schotterpiste zur Not halbwegs, aber Spaß macht das genau keinen. Nur: Touren- oder Mountainbikes sind mir in so einem Umfeld zu behäbig.

Tom Rottenberg

An dieser Stelle kommen Denise, Klaus und Ferdinand ins Spiel. Die drei betreiben in Podersdorf ein kleines Hotel. Genauer: eine Ansammlung von "Tiny Houses" in einem alten Obstgarten – das Parcels: Denise Krautz und Klaus Wurzinger sind ein Paar, Ferdinand ist ihr Dackel. Das Parcels gibt es seit Juni 2018, und seine Betreiber versuchen mit ihrem Urlaub-bei-Freunden-Approach, dem doch etwas altbackenen Podersdorfer Tourismuskonzept Gegenwart, Leben, Farbe und Spritzigkeit zu verleihen. Ihr Fokus liegt dabei auf Qualitäten und Assets der Region.

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Denn da tut sich auch im "traditionellen" Podersdorf mehr, als der erste Anschein suggerieren würde. Auch wenn viele Gasthäuser und Pensionen (nicht nur) von außen immer noch den Charme der 1990er-Jahre versprühen, wenn viele Shops und Lokale wie zu Fred-Sinowatz-Zeiten um 18 oder 19 Uhr schließen und manche aus "Protest" gegen den Trubel und die Umsätze, die ein paar 1000 Extrabesucher am Tri-Wochenende mit sich bringen, just da zusperren, gibt es auch das andere, das dynamische Podersdorf.

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Etwa Daniel Schreiers "Lokal Augenschein": Ohne dringende Empfehlung der Parcels-Crew wären wir an dem – äh – "eigenwillig" knallgrün eingefärbten Lokal vorbeispaziert und hätten wieder Pizza am Hauptplatz gegessen. So erlebten wir aber regionale Küche ("der Wein von hinter der linken Gartenmauer, die Pilze aus einem Keller rechts von uns") auf einem Niveau, das mit den richtig großen Namen des Burgenlands mithalten kann.

Das Gute daran, sich derlei nicht auf einem Lauf-, sondern auf einem Radtrip zu gönnen: Ein voller Bauch fährt besser Rad, als er läuft.

Aber vor allem: Solche Orte zeigen, was ein Schritt mehr ausmacht. Diese "Extrameile" macht Lust. Sie stimmt darauf ein, auch auszuprobieren, was sportlich jenseits des "Standardprogramms" drin ist.

Tom Rottenberg

Denn sportlich bedeutet "mehr als das Standardprogramm", Podersdorf (am Land) nicht nur als Tri- oder E-Bike-Radwandergegend zu etablieren, sondern die "New Kids on the Block" anzusprechen: die immer größer werdende Community der Gravelbiker. Also Rennradfahrerinnen und -fahrer, die ihren "Spielplatz" durch den Wechsel von superschmalen, superharten "Dackelschneidern" (sorry, Ferdinand!) zu nur geringfügig breiteren und weicheren Reifen schlagartig exorbitant erweitern: Auf der Straße verliert man zehn, vielleicht 15 Prozent an Speed – dafür explodiert die Zahl der Möglichkeiten.

Foto: Tom Rottenberg

Im Seewinkel ist Schotter- und Feldwegfahren (im Gegensatz zu vielen anderen Regionen Österreichs) legal: Radwandern ist hier mehr als nur erlaubt. Der Tourismus lebt von gemächlich auf eigentlich für den hochalpinen Einsatz konzipierten E-Mountainbikes am See, bei "Lacken" oder zwischen Feldern herumdümpelnden Gästen.

Ich meine das weder abfällig noch negativ: Die Menschen, die auf diesen Rädern majestätisch-gemächlich elektroverstärkt über brettelebene Schotterwege gondeln, bewegen sich, erleben Natur – und sind glücklich. Das ist gut, gesund und richtig so.

Tom Rottenberg

Doch die rasant wachsende, schnellere Zielgruppe der Schotter-Rennradfahrerinnen und -fahrer hat der Tourismus noch nicht auf dem Radar. Nicht nur im Burgenland: Rennradurlaubskonzepte und -hotels gibt es mittlerweile auch in Österreich. Mountainbiken boomt – kämpft aber mit vorgestrigen Restriktionen. Aber soviel ich weiß, gibt es außer "into the world" (einem Gravelevent im Bregenzerwald Anfang Juli) für "Schottermizzis" noch nichts: "Probiert aus, was hier geht", sagten Denise und Klaus – und holten uns (unterstützt vom lokalen Tourismusverband) "für ein kurzes Traininsgcamp" an den Neusiedler See.

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Natürlich liefen wir auch. No na. Nicht nur, weil sich das in einer Laufkolumne so gehört, sondern weil Laufen am See super ist. Außerdem gibt es wenig Besseres als eine Aufwachrunde vor dem Frühstück. Und vom Leuchtturm zur "Hölle" und zurück steht für eine gute Einführung ins Wesen des Seewinkels: Man sieht und spürt See, Sonne und Staub. Gleichzeitig erlebt man Idylle und Seele, eine Gegend, die noch aufwachen muss. Und deshalb jetzt am schönsten ist.

Tom Rottenberg

"Graveln" verhält sich zum Rennradfahren wie Traillaufen zu Asphaltgerenne. Zumindest für mich: ruhiger, entspannter und kontemplativer. Klar ist da die sportliche Komponente. Ehrgeiz und Challenge. Die Idee, mich nicht ausschließlich in der Komfortzone zu bewegen.

Aber während ich beim Straßenlauf oder auf dem Rennrad möglichst keine Pausen mache, meist den Weg als Ziel sehe, Druck positiv erlebe und daher als "Flow" wahrnehme, den ich nicht verlieren will, ist das "auf dem Trail" anders. Da sind Drumherum, Wahrnehmung, Erleben und Teilen wichtiger als Tempo und Pace – dennoch ist es nicht so betulich wie Wandern: Stehenbleiben? Sich umschauen? Natur genießen? Durchatmen? Ja, gerne!

Graveln – noch dazu zu zweit – bedeutet genau das.

Tom Rottenberg

Der enorme Vorteil, in einer Region wie dem Seewinkel zu "schottern", ist, dass man sich nicht verirren kann. Also: Natürlich kann man sich verirren. Falsch abbiegen. Die Orientierung verlieren. Keine Ahnung haben, wo man ist. Nur macht das nix. Weil man nie umkehren und zurückfahren muss: Solange da ein Weg oder ein Pfad ist, geht es weiter. Alles ist fahrbar – und zwar zügig-schnell.

Wer je mit dem Rennrad auf gut Glück Neben- und Seitenstraßen folgte, weiß, wie frustrierend das Ende der Ausbaustrecke ist. Wenn aus Asphalt Schotter- oder Feldweg wird. Erst recht, wenn man nicht weiß, ob das nur bis zur nächsten Kurve oder doch fünf Kilometer so sein wird.

Auf dem Gravelbike?

Her mit den Überraschungen!

Tom Rottenberg

"Planloses" Drauflosfahren wird darum Konzept. Im Seewinkel kann da nicht viel schiefgehen: Spätestens Ungarn, der See oder die Golser Weinhügel zeigen, wo man ist und wo zu Hause liegt. Im Gegensatz zum E-Bike muss man sich keine Sekunde Akku-Gedanken machen – und der Weg zurück nach Podo ist immer locker drin.

Orientieren kann man sich – wenn es sein muss – trotzdem. Nicht nur an Radwegmarkierungen, sondern auch an denen des Jakobswegs – oder eben den Laufrouten der "Laufarena". Doch bei aller Liebe zum Laufen: Vom tiefsten Punkt Österreichs (irgendwo im Nirgendwo zwischen Apetlon und Pamhagen) bei Gluthitze und Gegenwind zurück nach Podersdorf zu laufen wäre – außer Sie sind eine Ultraläuferin – nur halb so entspannt, wie die Route mit dem Rad über die diversen Lacken und Seen zu improvisieren.

Tom Rottenberg

Auch weil Sie beim Laufen ziemlich sicher nicht die Muße haben, zwischendurch baden zu gehen. Natürlich nicht in den als Naturschutzgebiet definierten Gewässern – aber anderswo. Etwa im Zicksee. Dass der 100 Meter vom Ufer nicht einmal knietief ist, tut nichts zur Sache: Erfrischend ist der kurze Stopp allemal – und bei über 30 Grad trocknet das Badegewand an der Luft im Fahrtwind sofort.

Wären wir auf dem normalen Rennrad auch baden gegangen? Vielleicht, nur wären wir da "minimalistischer" unterwegs gewesen – also ohne Lenkertaschen. Die sind für Tagestrips zwar nicht zwingend, aber ein kleines Handtuch und Sonnencreme sind eben doch praktisch. Und Aerodynamik ist auf dem Schotter kaum ein Thema.

Tom Rottenberg

Nicht zuletzt, weil bei dieser Form des Radfahrens auch Radkultur Platz findet: Ich habe keine Ahnung, wie oft ich schon auf Trainingssessions durch Frauenkirchen gebolzt bin, aber die relative Entschleunigung auf dem Schotter-Renner machte den Zwischenstopp bei der 1695 – nach dem zweiten Türkenfeldzug 1683 – in ihrer heutigen Pracht erbauten Basilika unvermeidlich.

Plötzlich war da nicht nur eine wunderschöne Kirche, sondern auch Geschichte: Frauenkirchen war schon im 14. Jahrhundert ein Wallfahrtsort. Kirche und Ort wurden 1529 (erste Türkenbelagerung) zerstört, wiederaufgebaut, wieder zerstört, wiederaufgebaut und 1990 zur Basilika minor erhoben. Und auch wenn das nix mit einem Trainingsaufenthalt zu tun hat: Es ist "wow".

Foto: Tom Rottenberg

Genauso wie Schloss Halbturn. Ganz abgesehen von der barocken Hütte und dem Park: Wenn man von Frauenkirchen nach Halbturn dann doch auf der Bundesstraße fährt, macht sich die Rennradgeometrie der Gravelspielzeuge bezahlt: Einander abwechselnd mit 30 km/h im Wind zu ziehen ist Rennradfahren – und ganz etwas anderes, als mit einem für Gegend und Topografie hypertrophen E-Moutainbike mehr gegen den Roll- als den Luftwiderstand anzukämpfen.

Dass wir im Sattel vorfuhren, war im Übrigen kein Regelbruch. Zumindest kein bewusster: Beim Parkeingang war kein "Radfahren verboten"-Schild – und wir hatten uns längst daran gewöhnt, auf die Beschaffenheit des Untergrunds kaum mehr zu achten.

Tom Rottenberg

Auch weil der Blick nach oben lohnender ist: Das Deckenfresko von Franz Anton Maulbertsch, einem der wichtigsten Maler des österreichischen Spätbarock, ist atemberaubend. Dass diese "Allegorie der Zeit und des Lichtes" 1765 als Hochzeitsgeschenk für Erzherzogin Marie Christine entstand, wusste ich . Der Begriff "Freskant" für den Künstler war mir aber neu. Nein, wichtig ist derlei nicht – aber ich stehe auf dieses angeblich "nutzlose Wissen". Und der Weg, auf dem man es sich aneignet, ist nie egal.

Tom Rottenberg

Den Weg zurück zum See könnte man jetzt auch "straight" anlegen. Am Straßenrad hätten wir das auch so gemacht: Rückenwind ist ja immer gut, also die Durchschnittsgeschwindigkeit ein bisserl nach oben korrigieren.

Nur: Wozu? Ist es nicht viel schöner, von den Golser Weinbergen aus den Blick weit schweifen zu lassen? Zum See, über die Ortschaften – weit, weit hinaus, bis er sich in der Steppe des Seewinkels verliert?

Und falls es Ihnen hier diesmal zu wenig ums Laufen ging: Ich kenne diesen Blick – vom "Golser Weinlauf". Einem dieser supersympathischen kleinen Dorfevents. Die Strecke ist auch ohne Rennen wunderschön: Kommen Sie her – und laufen Sie sie.

Auch wenn Sie auf dem Rad vermutlich mehr sehen.

Oder machen Sie beides.

Tom Rottenberg

Von Gols nach Weiden ist es auf dem Rad ein Katzensprung. Und nach einem verschwitzten Drink auf der schicken "Das Fritz"-Terrasse ging es zurück nach "Podo". Diesen Weg habe ich auf dem Rad bisher immer gehasst: acht Kilometer Bundesstraßen-Nahtoderlebnis mit wahnsinnigen Rasern, die mit Null-Abstand überholen.

Auf dem Gravelbike gondelten wir stattdessen unmittelbar am See entlang. Und verstanden, wieso die Seeumrundung als Radtraum gilt.

Nicht nur auf dem Rad: "Burgenland Extrem" führt hier vorbei – ein kultiger Lauf- und Wander-Ultra.

Der steht auch noch auf meiner Liste – aber das ist eine andere Geschichte. (Tom Rottenberg, 22.6.2021)

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Der Aufenthalt im Parcels-Hotel war eine Einladung der Hotelbetreiber (mit Unterstützung des Podersdorfer Tourismusverbandes).

Tom Rottenberg