100 Kilometer lang soll der neue unterirdische Teilchenbeschleuniger des Cern werden – damit wäre er dreimal so lang wie die bestehenden Rohre des Kernforschungszentrums.

Foto: Cern / Polar Media

Am europäischen Kernforschungszentrum Cern hat man in den kommenden Jahrzehnten viel vor. Hier wird bereits der Future Circular Collider (FCC) geplant – ein neuer Teilchenbeschleuniger, der alle bestehenden Forschungsanlagen dieser Art in den Schatten stellt.

100 Kilometer lang soll die Tunnelanlage im französisch-schweizerischen Grenzgebiet rund um Genf laut Designstudie sein, die Baukosten werden auf 20 Milliarden Euro geschätzt. Wird das Vorhaben tatsächlich realisiert, sollen ab 2040 erste Partikelströme durch die neue Röhre geschossen werden. Aktuell ist der bestehende, 27 Kilometer lange Beschleuniger des Cern die weltweit leistungsstärkste Anlage.

Doch bevor man mithilfe des FCC neue Erkenntnisse zum Aufbau des Universums gewinnen kann, stehen zuerst einmal im wahrsten Sinne sehr erdgebundene Fragen im Vordergrund – nämlich jene des Tunnelbaus.

Einen Ring mit 100 Kilometer Umfang in das Gestein zu treiben ist keine triviale Aufgabe. Zum Vergleich: Der längste Eisenbahntunnel ist derzeit der 57 Kilometer lange Gotthard-Tunnel in der Schweiz. Der Titel wird nach dessen Fertigstellung an den 64 Kilometer langen Brenner-Basistunnel weitergereicht.

Neun Millionen Kubikmeter

Eine Frage, die sich die Planer am Cern bei ihrem Tunnelprojekt beispielsweise stellen, ist, was mit dem Gestein aus dem Boden unter Genf passieren soll. Als epochemachendes Wissenschaftsprojekt möchte man auch im Bereich Entsorgung ein Vorbild sein. Zero Waste steht auf dem Programm. Aber wohin mit neun Millionen Kubikmeter Tunnelausbruch, wenn man ihn nicht deponieren darf?

Um diese Frage zu beantworten, hat man am Cern eigene Forschungen angestoßen. Im Rahmen des EU-Projekts FCC-IS, in dem auch die Montanuniversität Leoben vertreten ist, wird eine Studie zur neuen Beschleunigerinfrastruktur erstellt. Dabei wird auch nach Wegen gesucht, um das Ausbruchmaterial auf neue, sinnvolle und umweltschonende Art zu verwenden.

Zu diesem Zweck wurde ein eigener, noch bis Ende Oktober laufender Wettbewerb ausgeschrieben, der unter dem Titel "Mining the Future" die Frage nach der besten Anwendung für die Gesteinsberge an Forschende und andere interessierte Menschen und Institutionen weltweit weitergibt.

Robert Galler vom Lehrstuhl für Subsurface Engineering der Montanuniversität Leoben leitet diesen Wettbewerb. Er erklärt, dass die geplante Röhre durch eine Molasseschicht führt, einen weichen Sandstein, der porös und brüchig ist. Das sei auch ein Grund, warum eine der naheliegendsten Lösungen für das Problem kaum umsetzbar sei – die Beimischung des Gesteins in ebenjenen Beton, aus dem der Tunnel gebaut wird.

Keine Option: Beton

"Die Festigkeit des Materials ist leider etwas unter den erforderlichen Werten. Aus heutiger Sicht ist es für den Betonzuschlag nicht gut geeignet", sagt Galler. "Für diesen Zweck wäre es besser, den ganzen Ring tiefer zu legen, um in eine darunterliegende Kalksteinschicht zu kommen. Doch damit würde das Projekt zu teuer." Der Vorteil der Materialverwertung vor Ort würde die Kostenerhöhung nicht aufwiegen.

Die Eigenschaften der verschiedenen Molassearten in den Baubereichen wurden genau untersucht – für ein Tunnelprojekt sogar besonders detailliert, sagt Galler. Die ausführlichen chemischen, physikalischen und geologischen Tests, die die Montanuni gemeinsam mit der ETH Zürich und der Uni Genf durchgeführt hat, geben die Basis für den Wettbewerb und alle Verwertbarkeitsüberlegungen.

Einsatz als Wasserspeicher

Denkbar sind eine ganze Reihe von Anwendungen: Das poröse Mineral könnte etwa in der Landwirtschaft als Wasserspeicher auf den Feldern zum Einsatz kommen. In der französischen Schweiz gibt es zudem bereits eine Tradition der Nutzung des Sandsteins für dekorative Bau- und Fassadenelemente. Davon ausgehend könnte man über eine umfassendere Nutzung in der Architektur nachdenken. Auch Galler kann sich eine Anwendung im Baubereich vorstellen.

"Wärmedämmziegel aus dem Naturprodukt zu schaffen wäre eine großartige Herausforderung", sagt der Forscher. Neben der technischen Umsetzbarkeit gehören zu den Kriterien des Wettbewerbs auch die ökonomische Realisierbarkeit und ein gesellschaftlicher Nutzen. Das bedeutet etwa auch, dass eine Verwertung in der Nähe stattfinden sollte, weil ein aufwendiger Transport zu teuer und umweltschädlich wäre.

Landschaftskorrekturen

Bisher stehen bei den meisten Tunnelprojekten das Deponieren des Ausbruchs und die Durchführung von "Landschaftskorrekturen" im Vordergrund – auch in Österreich. Mit knapp der Hälfte der 17 Millionen Kubikmeter Gestein des Brenner-Basistunnels wird etwa das Padastertal aufgeschüttet, beim Semmering-Tunnel geht ein Teil in den nahegelegenen Longsgraben.

Die Verwendung der Materialien sowie die Art der Deponierung hängen letztendlich auch davon ab, ob das Material beim Abbau mit anderen Substanzen versetzt wird – etwa wenn Zement oder Harze ins Gestein eingepresst werden, um Strukturen zu stabilisieren.

Ein Vorzeigebeispiel gibt es mit dem Koralm-Tunnel, wo Außenschalenbauteile aus dem Ausbruch gefertigt werden. Für Galler steht bei der wirtschaftlichen Verwertung auch ein rechtlicher Aspekt im Weg: Bei Großprojekten darf der Ausbruch nicht länger als drei Jahre vor Ort gelagert werden. Das sei zu kurz, um das Material "dem Markt zuführen zu können".(Alois Pumhösel, 24.6.2021)