Im sehr hübschen Wiener Gemeindebezirk Floridsdorf (im Bild das Amtshaus am Spitz) spielte sich ein Streit ab, der einen achtfach Vorbestraften vor Gericht bringt.

Foto: Heribert Corn

Wien – Marko Arnautović ist nicht singulär. Daniel S. gibt vor Richterin Julia Matiasch zu, sich bei einem Streit unfein ausgedrückt zu haben. "Ich habe die Familie beleidigt", sagt der 28-jährige Angeklagte, will zunächst aber nicht sagen, mit welchem Wortlaut. "Es ist immer die Mutter", gibt Matiasch sich abgeklärt. Nun ist die Ankündigung, mit der Mutter seines Gegenübers in intimen Kontakt zu treten, per se noch nicht automatisch strafbar. Wenn am Ende eines Streits ein Verletzter mit einem Hirnödem und ausgeschlagenen Zähnen auf dem Boden liegt, dann allerdings schon.

Das Verfahren gegen S. bietet Einblicke in das Leben von Menschen, die in der sozialen Rangordnung weit unten stehen. Die Geschichte spielt in einem Männerwohnheim in Wien-Floridsdorf und ereignete sich am Abend des 22. April 2021. Der achtfach vorbestrafte Angeklagte sagt, er sei damals in das Heim gekommen, um sich zu melden und um eine Fahrradpumpe auszuborgen.

Begegnung im engen Gang

Im schmalen Gang seien ihm drei Männer entgegengekommen, einer habe ihn mit der Schulter angerempelt. "Es hat dann gleich Diskussionen gegeben, was das soll", verrät S. auch. Der 33 Jahre alte Verletzte habe ihm dann ohne Vorwarnung zwei Faustschläge ins Gesicht verpasst. "Ich war in Rage in dem Moment", gibt der Angeklagte zu. Er habe die Luftpumpe fallen lassen, links angetäuscht und dann einen harten Gesichtstreffer mit der Rechten gelandet. Auch gegen einen Sessel habe er aus Wut getreten und ihn dadurch ruiniert, gesteht er ein.

Dass er auf das liegende Opfer aber auch eingetreten habe, bestreitet S. mit Vehemenz. Erst recht stimme nicht, dass er eine Pistole gezogen und sowohl den Verletzten als auch einen von dessen Bekannten mit dem Umbringen bedroht haben soll. "Waren Sie alkoholisiert?", fragt die Richterin. "Ja. Ich hatte frei. Es waren vielleicht sechs oder sieben Bier ab 16, 17 Uhr. Und zwei Marillenschnaps." – "Ab 16 Uhr?", fragt Matiasch, während sie im Akt blättert. "Der Vorfall hat sich um 19.50 Uhr ereignet. Haben sie auch andere Substanzen konsumiert?" – "Ja, Kokain und Substitol. Aber ich war normal", beteuert der bullige 28-Jährige.

Aggression trotz Therapie

"Sind Sie ein Mensch, der sich leicht provozieren lässt?", will Verteidigerin Irene Pfeifer von S. wissen. "Nein. Jetzt nicht mehr. Ich bin Security, im Ordnungsdienst", lautet die etwas überraschende Antwort. Wie sich herausstellt, war das sein letzter Job vor der Pandemie. "Wären Sie mit einer Anti-Aggressions-Therapie einverstanden?", fragt die Rechtsvertreterin. Auch in diesem Fall ist mit der Antwort nicht unbedingt zu rechnen: "Ja, ich war schon bei einer Stelle zwei Jahre, die habe ich erfolgreich abgeschlossen. Von denen habe ich wieder eine Zusage", gibt S. bekannt.

Als entscheidenden Beweis für die Richtigkeit seiner Version sieht er ein von ihm aufgenommenes Handyvideo. Das hat er vor seiner Festnahme noch seiner Partnerin geschickt, die im Verhandlungssaal anwesend ist und es auf ihrem Mobiltelefon vorspielt. Zu hören ist, wie ein rasender Angeklagter garniert mit Kraftausdrücken brüllt: "Hod er mi gschlogn oda ned?" und eine Person mit "Jo, hod a!" antwortet.

Das 33-jährige Opfer erinnert sich ganz anders. Er habe mit zwei Mitbewohnern Geburtstag gefeiert und wollte in die Küche, um etwas zu Essen zu machen. Im Gang sei es zur Rempelei mit dem Angeklagten gekommen, nach einem Wortgefecht sei er in die Küche gegangen. Dort habe ihn S. von hinten attackiert – mit Fäusten und Füßen. Er habe an diesem Abend zwei Bier getrunken, es sei sein erster Alkohol seit 18 Jahren gewesen. Auch ein Heroinersatzpräparat hatte er im Körper. Warum die Polizei in einem Amtsvermerk festhielt, dass eine Vernehmung des Verletzten wegen seiner augenscheinlichen Alkoholisierung nicht möglich sei, kann der Zeuge sich nicht erklären.

Hirnödem und Zahnverluste

Er habe jedenfalls ein Hirnödem erlitten, eine Beckenprellung und einen Zahn verloren. Zwei weitere seien ihm danach gezogen worden, weitere zwei von allein ausgefallen. Noch immer habe er Panikattacken. Denn der Angeklagte habe auch eine Waffe gezogen, sie ihm an den Kopf gehalten und gedroht. Der Verletzte ist sich ganz sicher, dass der Gegenstand nicht die Luftpumpe gewesen sei.

Der zweite Zeuge ist in einem Gewissenskonflikt. "Ich schick jetzt den Herrn ins Gefängnis. Ich hab selbst einen Fünfer gemacht", verweist er auf seine eigene Erfahrung mit Justizanstalten. Dennoch will er die Wahrheit sagen: "Die hom se in de Goschn ghaut." Er habe auch einen Tritt des Angeklagten gegen den Kopf des Opfers gesehen, beteuert dieser Mann. Und die Waffe sei auch ihm selbst von S. zwischen die Augen gehalten worden. "Wo ist die hergekommen?", fragt die Richterin. "Die Waffe war da, und dann war sie schnell wieder weg", gibt der Zeuge zu Protokoll.

Richterin mit Likörkenntnissen

Seinen Alkoholisierungsgrad beschreibt er mit: "Schon richtig eingspritzt." Er habe sicher eine Flasche getrunken. Kein Bier. "Amaretto mit Milch. Des is so a ..." – "Ja ja, Amaretto kenne ich", demonstriert Matiasch Kenntnisse mit italienischen Likören. Der Zeuge kann sich auf Nachfrage der Verteidigerin allerdings vorstellen, dass der Verletzte den Angeklagten stoßen und schlagen wollte, nachdem S. lautstark den Geschlechtsakt mit der Mutter in Aussicht gestellt hatte.

Der nächste Zeuge sagt, er sei recht nüchtern gewesen. "Ich habe ein lautes Streitgespräch gehört", erinnert er sich. Als er auf den Gang sah, habe der Angeklagte dem Opfer eine Ohrfeige gegeben. Der Geohrfeigte wollte dann zurückschlagen. "Dabei hat er sich total lächerlich gemacht. Er hat ihn nicht getroffen und ist immer wieder gestolpert", schildert dieser Zeuge. Als der Angeklagte zu filmen begann, habe er sich ins Zimmer zurückgezogen. Ob die Stimme auf dem Video, die die Schläge durch das Opfer bestätigt, die seine ist? "Kann sein."

Überraschungen durch Sachverständigen

Der gerichtsmedizinische Sachverständige Christian Reiter kann dann in seinem Gutachten mit Überraschungen aufwarten. Für ihn ist es nämlich mehr als fraglich, ob die in der Anklage angeführte Schwellung des Gehirns des Verletzten tatsächlich mit dem Vorfall zusammenhängt. "Es wurde im Spital entdeckt, bei einer Verlaufskontrolle wurde aber keine Veränderung festgestellt. In der Diagnose steht daneben auch s.i.", führt Reiter aus. Und trägt in seiner jovialen Art zur Hebung der Volksbildung bei: "Das steht für signum interrogationis. Das heißt Fragezeichen. Und bedeutet, dass das Ödem auch angeboren sein kann oder sich im Laufe des Lebens entwickelt hat."

Bei Tritten gegen den Kopf sei jedenfalls auch mit einer Gehirnprellung zu rechnen, davon zeigten die bildgebenden Untersuchungen aber keine Spuren. Überhaupt würden Tritte Blutergüsse, Schürf- oder Platzwunden zurücklassen – auch diese fanden sich nicht am Körper des Verletzten. Insgesamt sei ein kräftiger Faustschlag für den ursprünglich ausgeschlagenen Zahn eine durchaus realistische Variante, untermauert der Sachverständige die Geschichte des Angeklagten.

Richterin glaubt Zeugen

S. blickt sich nach dem Vortrag der Expertise optimistisch zu seiner Lebensgefährtin um, Verteidigerin Pfeifer macht in ihrem Schlussplädoyer klar, dass der Sachverständige zumindest Teile der Zeugenaussagen widerlegt habe. Die Richterin kann sie damit nicht wirklich überzeugen. Sie verurteilt S. zwar nicht, wie ursprünglich angeklagt, wegen schwerer Körperverletzung, glaubt aber an die Pistole und die Morddrohungen.

Bei einem Strafrahmen bis zu drei Jahren verurteilt Matiasch den Angeklagten wegen gefährlicher Drohung rechtskräftig zu 15 Monaten unbedingter Haft. Selbst wenn der Verletzte zuerst zugeschlagen habe, sei keine Notwehrsituation mehr gegeben gewesen, begründet sie. "Sie haben selbst gesagt, Sie waren erst perplex und dann in Rage." Auch eine teilbedingte Strafe kommt nach ihrer Überzeugung bei acht Vorstrafen nicht mehr infrage. "Da ist kein Raum mehr für eine bedingte Strafnachsicht!", beendet die Richterin das Verfahren. (Michael Möseneder, 22.6.2021)