Tischlerei, Shiatsu-Praxis, Zahnarzt, Tonstudio und Steuerberater – und das alles in einem Haus? War die funktionale Durchmischung von Wohnen, Arbeiten und Gewerbe in der gründerzeitlichen Stadt noch eine Selbstverständlichkeit, so darf man sich heute schon daran erfreuen, wenn man es schafft, einen kleinen Greißler im Haus am Leben zu halten. Das soll sich nun ändern. In der Bruno-Marek-Allee auf dem neuen Nordbahnhof-Areal – genauer gesagt inmitten der Wendeschleife des O-Wagens – entsteht Wiens erster geförderter Wohn- und Gewerbebau, der diese gegensätzlichen Welten unter einem Dach vereint.

Die Hauswirtschaft ist das ungewöhnliche Projekt des gemeinnützigen Bauträgers EWG und des Planungsbüros Einszueins Architektur auf dem Nordbahnhof-Areal. Für Herbst ist der Spatenstich geplant.
Rendering: Picaro Studio

"Die Hauswirtschaft", so der offizielle Titel, besteht zu 50 Prozent aus Wohnen und zu 50 Prozent aus Gewerbeflächen. "Wir haben schon einmal ein gefördertes Projekt mit rund 25 Prozent Gewerbeanteil realisiert", sagt Fritz Kittel, Geschäftsführer des gemeinnützigen Bauträgers EGW und damit auch Eigentümer der rund 2200 Quadratmeter großen Liegenschaft 6B2. "Doch in dieser Größe und Dichte ist die Hauswirtschaft eine österreichische Premiere."

Die Schwierigkeit daran: Die gewerblichen Flächen im Erdgeschoß und in den ersten beiden Obergeschoßen – insgesamt 3500 Quadratmeter – verlangen nicht nur nach größeren und höheren Räumen und somit nach einem Stützenraster mit flexiblen Trennmöglichkeiten, sondern auch nach einer Bündelung der Sanitärkerne. Kittel: "Wie Sie sich vorstellen können, müssen wir hier zwischen Gewerbe- und Wohnbereich ganz schön viele Haustechnikschächte verziehen. Das erzeugt einen gewissen Kostendruck, den wir bei einem klassischen Wohnprojekt nicht haben."

Der Initiator

Entstanden ist die Hauswirtschaft auf Initiative von Peter Rippl. Seit 2003 ist der ausgebildete Innenarchitekt und Objekteinrichter als Shiatsu-Praktiker tätig. Doch jetzt hat ihn die Vergangenheit eingeholt: Als Initiator und Vorstand der für dieses Projekt gegründeten Genossenschaft Die Hauswirtschaft nimmt er jetzt wieder das Planungszepter in die Hand. "Der Mangel an leistbaren, geförderten Gewerbeflächen ist riesig", so Rippl. "Wenn die großen Immobilienentwickler diesen Bedarf nicht abdecken, dann machen wir das halt."

50 Wohneinheiten sollen in den oberen Etagen der Hauswirtschaft entstehen. Im unteren Bereich sind gewerbliche Flächen vorgesehen.
Rendering: Picaro Studio

Geplant sind etwa Kunstateliers, Ton- und Fotostudios, eine Textilwerkstatt, die sich vor allem auf Recycling und Upcycling konzentrieren wird, eine 600 Quadratmeter große Gesundheitswerkstatt für Praktiker und Therapeuten im physischen und psychischen Bereich sowie unterschiedliche Arbeitssituationen, in die sich Interessenten aus den unterschiedlichsten Branchen und Businesses monatsweise einmieten können. Das Angebot reicht vom flexiblen Schreibtisch über private Kleinstudios bis hin zu größeren Raumkonstellationen mit einem Dutzend Arbeitsplätzen. Ein Teil der Schreibtische soll den Bewohnern auch als ausgelagertes Homeoffice zur Verfügung stehen.

Keine Konkurrenz

Einen Flexdesk wird es ab etwa 300 Euro pro Monat geben, das kleinste Studio wird mit 400 Euro Monatsmiete zu Buche schlagen, und ein 50 Quadratmeter großes Büro wird sich auf etwa 1000 Euro pro Monat belaufen. Klingt zwar viel, aber: "Mit klassischen Büros ist diese Situation nicht zu vergleichen", sagt Rippl. "Denn hier handelt es sich um die reine Arbeitsfläche. Die gesamte Büroausstattung, wie etwa Drucker, Toiletten, Teeküche, Besprechungszimmer, liegt außerhalb davon und ist Teil der Miete. Heizung, Glasfaserinternet und Reinigungspauschale sind im Preis ebenfalls voll inkludiert." Damit steht die Hauswirtschaft nicht in Konkurrenz zum klassischen Büromarkt, sondern eher zu innovativen Office-Anbietern wie etwa My Hive oder We Work. Und diese sind in der Tat deutlich teurer.

Geplant wird die Hauswirtschaft, die neben den Gewerbeflächen auch 50 Wohneinheiten umfasst und die baurechtlich wie dereinst die Sargfabrik als sogenanntes Heim abgewickelt wird, von Einszueins Architektur. Das Büro, selbst auf dem Nordbahnhof-Areal zu Hause, ist nach vielen Baugruppenprojekten inzwischen ein Meister auf dem Gebiet der Partizipation – und kommt bei diesem Bauvorhaben dennoch ein bisschen ins Schwitzen.

Gegensätzliche Wünsche

"Wir wurden gefragt, ob wir gerne eine Baugruppe mit dem Schwerpunkt Gewerbe begleiten und das Projekt für sie planen wollen", erinnert sich Markus Zilker, Partner bei Einszueins. "Und damals haben wir ganz naiv und leichtfertig gesagt: Na klar! Heute wissen wir, dass ein Wohnprojekt bei aller Unterschiedlichkeit der Menschen aus relativ ähnlichen Wohnbedürfnissen besteht. Auf ein Gewerbehaus trifft das aber nicht zu, denn der eine ist laut, der andere leise, der eine groß, der andere klein, der eine braucht nur einen Schreibtisch, der andere eine ganze technische Maschinerie. Diese teils gegensätzlichen Wünsche zu bündeln und räumlich zu organisieren ist ganz schön viel Arbeit."

Aktuell, meint Zilker, trudeln die ersten Anbote der Baufirmen ein, im Herbst ist der Spatenstich geplant. Mitte 2023 sollen die Schlüssel an die Wohnungsmieter und Gewerbetreibenden übergeben werden. Und nachdem die Wiederbelebung der gründerzeitlichen Qualitäten kein Einzelfall bleiben soll, wird das Projekt vom Realitylab (Gernot Tscherteu) und von der TU Wien begleitet und mit einem dreijährigen Forschungsprojekt des Klima- und Energiefonds gestützt. Geht das Konzept auf, könnte das Haus in der O-Wagen-Schleife in der Immobilienwirtschaft schon bald Nachahmer finden. (Wojciech Czaja, 23.6.2021)