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Nicht nur in Ungarn selbst ist der Protest gegen das Vorgehen der Regierung gegen Homosexuelle und Transpersonen laut.

Foto: AP / Bela Szandelszky

Dass der Mittwoch für Ungarns Premier Viktor Orbán kein besonders toller Tag werden würde, war schon am frühen Vormittag klar. Da sagte der rechtsnationalistische Politiker und glühende Fußballfan seinen Besuch in der Münchner Allianz-Arena ab, wo Ungarns Nationalteam am Abend gegen Deutschland spielen sollte. Orbán hatte da wohl schon die Kunde erreicht, wie Brüssel auf ein von seiner Regierung beschlossenes Gesetz reagieren würde, das Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert und Homosexuelle in die Nähe von Pädophilen rückt – nämlich mit massiver Kritik.

An dem Beschluss hatte sich schon zuvor massive Kritik entzündet. Die Münchner Stadtregierung wollte das Fußballstadion in Regenbogenfarben beleuchten, was der europäische Fußballverband Uefa aber als verbotenen politischen Protest untersagte.

Flanken der EU-Kommission

Deutsche Spieler wollten dennoch mit Armbinden in Regenbogenfarben einlaufen, um ihre generelle Unterstützung für Vielfalt zu betonen, Fans die Regenbogenfahnen schwenken, andere Wahrzeichen in München sollten bunt beleuchtet werden. Und: Zahlreiche EU-Staaten hatten eine Erklärung unterzeichnet, die Ungarn verurteilen sollte. Österreich zählte vorerst nicht dazu, was zu koalitionsinterner Verstimmung führte.

Wenig darauf folgte dann eine weitere politische Flanke aus der EU-Kommission und aus dem EU-Ministerrat in Brüssel – und diese saß zielgenau. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen trat kurz nach zehn gemeinsam mit dem belgischen Premier Alexander de Croo vor die Kameras. Anlass war die Genehmigung des belgischen Wiederaufbauprogramms. Aber nach der Frage zum Konflikt mit Ungarn übernahm von der Leyen volley.

Verfahren gegen Ungarn

Das Gesetz sei "eine Schande", es verstoße gegen "fundamentale Werte der Europäischen Union, Menschenwürde, Gleichheit und den Respekt der Menschenrechte", sagte sie. Und sie kündigte an, dass sie die Kommission beauftragt habe, ein Verfahren gegen Ungarn wegen Verletzung der EU-Regeln und der Charta einzuleiten. Dies geschieht, indem die Kommission an die Regierung des Landes einen Brief schreibt, in dem es die möglichen Rechtsverletzungen aufzeigt und um Auskunft bzw. eventuell gleich Korrektur ersucht.

Hervor stach vor allem die Wortwahl. Von der Leyen legte auch ein persönliches Bekenntnis ab: "Ich glaube an eine Europäische Union, in der man frei ist, den zu lieben, wen man möchte." So direkt war Orbán schon lange nicht mehr daran erinnert worden, dass er und seine Regierung mit dem Entzug der Stimmrechte im EU-Ministerrat bedroht sind, nachdem das Europäische Parlament gegen Ungarn ein sogenanntes Artikel-7-Verfahren eingeleitet hat. Dieses ist zwar noch im Vorstadium, sieht jedoch den Ausschluss von Entscheidungen in Brüssel im Fall einer dauerhaften und systematischen Verletzung des EU-Prinzips der Rechtsstaatlichkeit vor, wenn die Staaten das beschließen.

Ein potenziell hoher Preis also für den seit 2010 regierenden Rechtspopulisten, was auch die Frage eröffnet, wieso dieser sich das gerade jetzt antut. Die Antwort ist zum einen ideologischer Natur. Orbán gründet weite Teile seiner Politik auf völkisch-klerikales Denken. Die von ihm geschaffene Verfassung verpflichtet alle staatlichen Organe zum "Schutz der Kultur des Christentums". Sie schützt die Ehe ausschließlich als eine Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Explizit heißt es in einem erst Ende 2020 hinzugefügten Zusatz: "Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann."

Diskriminierung nach Verfassung

Homophobe Gesetze und Kampagnen sowie schwulen- und transfeindliche Äußerungen von Politikern der Regierungspartei Fidesz sind insofern im Einklang mit der Verfassungsrealität. Die diffamierende Gleichsetzung von Homosexualität mit Pädophilie erscheint vor diesem Hintergrund als gewollte Überspitzung. So sagte etwa Parlamentspräsident László Köver im Mai 2019: "Ein normaler Homosexueller weiß, was die Ordnung der Welt ist. Er versucht, sich ihr anzupassen, indem er sich nicht unbedingt für gleichberechtigt hält." Konkret ging er auf den – gesetzlich verunmöglichten – Adoptionswunsch ein: "Moralisch besteht da keinerlei Unterschied zu einem pädophilen Verhalten. In beiden Fällen ist das Kind ein Objekt, ein Konsumartikel, ein Mittel der Selbstverwirklichung."

Im Sommer 2019 wagte es der Getränkehersteller Coca-Cola, eine Werbekampagne unter dem Motto "Love Is Love" zu starten. Auf den Plakaten waren auch lifestylemäßig hippe gleichgeschlechtliche Paare zu sehen. Rechte Kreise, die mit der Orbán-Regierung verbunden waren, starteten eine aggressive Gegenkampagne, die zum Boykott des Herstellers aufrief. Dieser knickte ein und ließ die Plakate entfernen. Heute wären sie schlicht illegal: Das am Dienstag vor einer Woche beschlossene Gesetz verbietet auch jegliche Werbung, in der LGBTQI-Menschen als Teil einer gesellschaftlichen Normalität dargestellt sind.

Kein Märchenland für alle

Zur Strategie des Orbán-Regimes gehört es auch, Forderungen rechtsradikaler Vorfeldorganisationen aufzugreifen und dann in Gesetzesform zu gießen. So verhielt es sich auch mit dem jüngsten umstrittenen Gesetz, das die Minderjährigen zugängliche Darstellung von LGBTQI-Realitäten unter Zensur stellt. Das Vorspiel lässt sich an Ereignissen im Oktober vorigen Jahres festmachen. Die Lesbenvereinigung Labris hatte das Kinderbuch Märchenland für alle herausgebracht. Es erzählt bekannte Märchen in einer Weise neu, dass die Heldenfiguren einer Minderheit angehören. Darunter sind in Armut Lebende, Kinder mit Behinderung, Opfer von Gewalt, Homosexuelle und Transpersonen.

Wenig später trat die rechtsextreme Abgeordnete Dóra Dúró an die Öffentlichkeit: Auf einer Pressekonferenz schredderte sie ein Exemplar des Buches. Dúró gehört der Splitterpartei Mi Hazánk (Unsere Heimat) an, die sich von der einst rechtsradikalen Jobbik abgespalten hatte, weil diese auf einen gemäßigteren Kurs einschwenkte. Sie bildete die Steilvorlage für Orbán höchstpersönlich. Wenige Tage später dozierte er in seinem regelmäßigen Rundfunkinterview: "Die Ungarn sind gegenüber diesem Phänomen (der Homosexualität,Anm.) geduldig. Doch es gibt eine ‚rote Linie‘: Lasst unsere Kinder in Ruhe!" Orbán hofft damit auch darauf, die Opposition zu spalten.

Die Migranten und Soros

Dabei spielt weniger eine Rolle, wie Orbán selbst über Homosexualität denkt. Insider beschreiben ihn da als relativ gelassen. Zugleich braucht er als Populist immer wieder möglichst wehrlose oder ferne "Feinde", gegen die er mobilisierungswirksam zu Felde ziehen kann. Ab 2015 waren das die "Migranten" und der sie angeblich "importierende" US-Milliardär George Soros. Im nächsten Frühjahr stehen Parlamentswahlen an, und eine vereinte Opposition hat zum ersten Mal zumindest die Chance, die Fidesz-Herrschaft zu entthronen. Den Schaden tragen andere. 30 Prozent der LGBTQI-Menschen in Ungarn haben laut Aktivisten einen Suizidversuch hinter sich.

Vor diesem Hintergrund war auch in Österreich die Empörung groß, als es Dienstag so aussah, dass sich Wien vorerst nicht dem Protest von 14 EU-Staaten gegen Ungarn anschließen würde. Vor allem die Grünen waren ehrlich verärgert – über Orbán und ihren Koalitionspartner ÖVP. "Ich bin gelernte Richterin, und ich bin es gewöhnt, dass man zuerst alle Fakten auf den Tisch bekommt, bevor man sich ein abschließendes Urteil bildet", begründete Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) noch am Dienstag.

Sie hatte noch das Gespräch mit Ungarn gesucht. Aber: "Die Anhörung im Rat in Luxemburg konnte unsere Besorgnis nicht entkräften, sondern hat sie im Gegenteil bestätigt", sagte Edtstadler am Mittwoch – auch Österreich unterzeichnete, ebenso wie Italien, Griechenland und Zypern, die sich mit Wien verständigt hatten, auf eine Erklärung aus Budapest zu warten. Die "Aussprache" fiel offenbar heftig aus, Ungarns Justizministerin Judit Varga soll dabei auch Kollegen persönlich beschimpft und beleidigt haben.

"Es hat einen guten Grund, wieso #ÖVP nicht an #pride teilnehmen darf", hatte da die grüne Abgeordnete Ewa Ernst-Dziedzic schon auf Twitter geschrieben. "Auf sie ist nämlich in Gleichstellungsfragen kein Verlass." Die Opposition machte in erster Linie den großen internationalen Druck auf Österreich dafür verantwortlich, dass die ÖVP doch noch eingeschwenkt ist. Die Neos hatten schon vorige Woche einen Antrag eingebracht, mit der Forderung, Budapests Vorgehen "auf das Schärfste" zu verurteilen. (Gregor Mayer aus Budapest, Thomas Mayer, Michael Völker, Manuel Escher, 23.6.2021)