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"Alle wussten es" heißt das Buch, das Valérie Bacot über ihren Lebensweg geschrieben hat. Und alle Zeugen bestätigten diese Woche vor Gericht, was in dem burgundischen Dorf ein offenes Geheimnis war: Daniel Bacot, ein 60-jähriger Fernfahrer, vergewaltigte seine 25 Jahre jüngere Frau und misshandelte die Kinder seit Jahren auf schwerste Weise. Der Schusswaffenliebhaber schlug sie fast täglich und verbot ihnen jeden Umgang außerhalb der Familie; seine Frau zwang er mit vorgehaltener Pistole dazu, sich zu prostituieren.

Bis zu einer fatalen Nacht im März 2016. Nach einem brutalen Prostitutionsakt, den ihr Mann von außerhalb des Peugeot 806 mitverfolgte, konnte die Familienmutter nicht mehr. Sie richtete die Pistole, die sie selber bedroht hatte, gegen ihren Peiniger und streckte diesen mit einem Schuss in den Nacken nieder.

Leiche vergraben

Bei dem Prozess in Chalon-sur-Saône wirft ihr der Staatsanwalt nun vorsätzlichen Mord vor. Sie habe versucht, ihren Mann zuerst mit Tabletten einzuschläfern; nach der Tat habe sie die Leiche im Wald vergraben.

Valérie Bacot ist wegen Mordes angeklagt.
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Die Angeklagte bestreitet das nicht: Sie erklärte, sie sehe "in Ruhe" einer langen, vielleicht lebenslangen Haftstrafe entgegen, da ihre Kinder endlich "in Sicherheit" vor ihrem Vater seien.

Folgenlose Anzeigen

Unter Tränen erzählte sie, wie sie selbst schon mit 14 Jahren von ihrem späteren Mann vergewaltigt worden war. Er war damals noch mit Valéries Mutter zusammen; wegen Gewaltanwendung hatte er bereits eine mehrjährige Haftstrafe abgesessen. Später tat er sich mit Valérie zusammen, heiratete sie, machte ihr vier Kinder – fast immer unter Alkoholeinfluss und mit nackter Gewalt.

Die Kinder erklärten diese Woche vor Gericht, sie hätten mehrmals die nächste Polizeiwache aufgesucht, um ihren Vater anzuzeigen, doch habe man sie ohne weiteres Eingreifen nach Hause geschickt. Die Angeklagte schilderte in dem Prozess, der Auslöser für ihre Tat sei ihre Angst gewesen, dass ihr Peiniger auch ihre Tochter zur Prostitution zwingen könne. Er habe nämlich wissen wollen, "wie" das Mädchen sexuell sei.

Kinder unterstützen Mutter

Frankreich nimmt konsterniert zur Kenntnis, welche düsteren Verhältnisse in einem burgundischen Dorf wie La Clayette – bekannt für sein Schloss – herrschen. Und wie wenig die Nachbarn von den Vorgängen nebenan wussten oder wissen wollten.

Jetzt berichten Pariser Fernsehsender live von den Verhandlungen, Journalisten teilen die neusten Aussagen und Wendungen sekundenschnell per Twitter aus dem Prozesssaal mit. Die öffentliche Meinung steht auf der Seite von Valérie Bacot. Und auch ihre vier Kinder halten voll zu ihr; sie berichteten über die unaufhaltsamen Schläge, Demütigungen und Strafen durch ihren Vater; das Verhalten ihrer Mutter verteidigen sie durch die Bank.

Ein Unterstützungskomitee hilft Valérie Bacot, die Gerichtskosten zu stemmen. Eine Petition mit über 650.000 Unterschriften verlangt einen Freispruch. Auch wenn Valérie Bacot einen Mord begangen habe, müsse sie angesichts der furchtbaren Tatumstände freikommen, heißt es darin.

Notwehr oder Selbstjustiz?

Viele Franzosen fühlen sich an die Affäre Jacqueline Sauvage erinnert, benannt nach einer Frau, die ihren Mann nach 47 Ehejahren erschossen hatte. Sie wurde 2012 verurteilt, vom damaligen Präsidenten François Hollande aber vier Jahren später begnadigt. Seither sind mehrere ähnliche Fälle dazugekommen. Und wie sich zeigt, waren die Gattenmörderinnen meist selber Opfer häuslicher Gewalt gewesen.

Dieser Umstand bewirkt auch eine öffentliche Debatte über die zunehmende Zahl von Frauenmorden in Frankreich – 146 im Jahr 2019, im Covid-Jahr 2020 vermutlich noch mehr. Sehr umstritten bleibt die Frage nach der Grenze zwischen Notwehr und Selbstjustiz. Eine überzeugende Antwort während des Prozesses haben weder die Petitionäre noch die Staatsanwälte gefunden.

Die Staatsanwaltschaft plädierte am Freitag auf fünf Jahre Haft, davon vier auf Bewährung. Das Urteil sollte noch am Freitagabend oder Samstag fallen. (Stefan Brändle aus Paris, 25.6.2021)