In den Fjorden Patagoniens gibt es eine prächtige Unterwasserwelt, die man hier nicht vermutet würde – und die noch kaum erforscht ist.

Foto: Vreni Häussermann & Günter Försterra

Die beeindruckendste Entdeckung, die Vreni Häussermann gemacht hat, war zugleich auch eine schockierende Erfahrung. Sie hat 2016 mit ihrem Team das größte Walsterben dokumentiert, das bisher in der Wissenschaft beschrieben ist. Der Fund von 25 angeschwemmten Exemplaren – das alleine bereits eine erstaunliche Anzahl – bei einer Expedition in Zentralpatagonien ließ die Meeresbiologin nicht mehr los. Sie konnte das Wissenschaftsmedium National Geographic als Geldgeber gewinnen, um eine Winterexpedition in die unzugängliche Gegend auszurüsten.

Im viersitzigen Wasserflugzeug ging es, unterbrochen von Schlechtwettereinbrüchen und Zwischenlandungen, von Fjord zu Fjord. Jener, der zum Walfriedhof wurde, liegt in einem der wildesten Gebiete Patagoniens. Da bereits das nächste Unwetter drohte, blieb für den Überflug nur kurze Zeit. "Es war meine spannendste Expedition bisher", erinnert sich Häussermann, "und sie mündete in einem apokalyptisch anmutenden Anblick. Wir zählten über 360 tote Bartenwale."

Die "schönste Landschaft der Welt"

Die aus Deutschland stammende, in München ausgebildete Meeresbiologin absolvierte Mitte der 1990er-Jahre ihr erstes Forschungsjahr in Patagonien. Später nahm sie das Angebot an, die Forschungsstation Huinay, eine Außenstelle der Katholischen Universität von Valparaíso, zu leiten, und zog mit ihrem späteren Ehemann Günther Försterra – er ist ebenfalls Biologe – nach Chile.

Für Häussermann ist Patagonien "die schönste Landschaft der Welt". Damit meint die heute 50-Jährige nicht nur die zerklüftete Bergregion, sondern auch die Welt unterhalb des Wasserspiegels – der Gegenstand ihrer Forschungen. Die Biologin muss hier nicht nur das Walsterben beobachten, sondern auch, wie Klimawandel, Übersäuerung und Verschmutzungen, die zu einem Überangebot an Nährstoffen führen, die Unterwasserwelt mit ungeheurer Geschwindigkeit zerstören. Das ist umso tragischer, als die einzigartigen Unterwasser-Ökosysteme der Fjorde noch kaum erforscht sind.

Die Fjorde Patagoniens sind Heimat einer unglaublichen Artenvielfalt. Durch den Klimawandel und andere menschliche Aktivitäten ist sie zunehmend gefährdet.
Foto: Rolex/Jeremias Thomas

Über 70 neue Arten

"Wir haben mehr als hundert Schwämme gesammelt, die in der Forschung noch nicht beschrieben sind. In meinem Fachgebiet der Seeanemonen warten noch an die 20 unbekannte Arten im Labor", gibt Häussermann Beispiele. "Und ich könnte jederzeit noch mehr unerforschte Spezies sammeln." Über 70 neue Arten wurden bereits neu beschrieben. Es gibt nun Anemonen, die nach ihrem Mann und nach ihren beiden Kindern benannt sind. Dabei wurde bisher nur oberflächlich gesucht: lediglich in Tauchtiefe bis 30 Meter, und ohne unter Steine zu blicken.

Stehen Mittel zur Verfügung, organisiert Häussermann Erkundungen mit Tauchrobotern, um tiefere Meereszonen zu erkunden – das Geld eines Preises für Unternehmertum der Uhrenmarke Rolex verwendet sie etwa dafür. Die Biologin versucht die vom Aussterben bedrohten Ökosysteme einerseits zu retten, indem sie für Schutzgebiete lobbyiert. Andererseits arbeitet sie daran, die sterbende Unterwasserwelt zumindest für die Wissenschaftsbücher der Zukunft zu erhalten.

Taucht man in das Wasser der patagonischen Fjorde ein, wird es schnell dunkel und kalt. Man bewegt sich an senkrechten Felswänden in die Tiefe, beschreibt Häussermann. Doch ihr Scheinwerferlicht lässt die Taucher eine Welt erblicken, die man hier nicht vermuten würde. "Seeanemonen leuchten etwa in Gelb, Orange oder Rot. Viele der Felsen sind lückenlos besiedelt", schildert die Biologin. "Viele Arten fallen zudem außergewöhnlich groß aus. Manche Arten von Seepocken, Nackt- oder Käferschnecken werden hier 30 Zentimeter groß."

Lachszucht trägt Mitschuld

Eine Entdeckung Häussermanns in diesem Umfeld veränderte das wissenschaftliche Bild dieser Meere nachhaltig: "Es gibt hier Kaltwasserkorallen, die fast wie in den Tropen große Habitate bilden und vielfärbige 3D-Strukturen an den Felsen bilden. Sie sind absolut beeindruckend", sagt die Biologin. "Bis zu meiner Entdeckung waren diese Korallen für Chile nicht beschrieben. Es dauerte Jahre, bis ich manche internationalen Kollegen überzeugen konnte, dass dieser Fund echt ist."

Die Meeresbiologin Vreni Häussermann hat bereits Hunderte unbekannte Unterwasserspezies zutage gefördert. Ihr Spezialgebiet sind Seeanemonen.
Foto: Vreni Häussermann & Günter Försterra

Große Korallenbänke hat Häussermann etwa in den drei nördlichsten Fjorden Patagoniens gefunden. In einem davon sind sie bereits zu großen Teilen abgestorben. Für die Meeresbiologin hat das große Sterben hier nicht nur mit dem Klimawandel und der damit einhergehenden Versauerung der Meere zu tun. Der rasende Fortschritt der Zerstörung ließe sich allein damit nicht erklären. Einen Mitschuldigen findet sie in der Lachszucht, die in den vergangenen Jahrzehnten in den Fjorden Patagoniens einen riesigen Boom erlebte.

Nährstoffüberlastung

"Hier werden extreme Mengen von Nährstoffen und Chemikalien wie Antibiotika ins Meer gekippt – weit über dem Niveau, das etwa in Norwegens Lachszucht üblich ist", sagt Häussermann. "In den halbgeschlossenen Fordsystemen, in denen sich das Wasser nur ein-, zweimal pro Jahr austauscht, hat das eine enorme Verschmutzung zur Folge." Das Nährstoffüberangebot lässt enorme Algenblüten entstehen, das Meer der Fjorde wird wochenlang zur "braunen Suppe". Nach dem Absterben der Algenblüte kommt es zu Sauerstoffmangel. Zudem bedecken Sedimente aus den Lachszuchten den Boden. Beides schade den Korallen, erklärt die Meeresbiologin: "Innerhalb einer Woche können ganze Korallenpopulationen tot sein."

Für Häussermann ist Patagonien "die schönste Landschaft der Welt".
Foto: Rolex/Ambroise Tézenas

Letztendlich glaubt die Wissenschafterin, dass auch der Massentod der Wale mit diesem Phänomen zu tun hat. Die massenhafte Blüte giftiger Mikroalgen ist für sie die wahrscheinlichste Todesursache. Gerade zur Zeit der Beobachtung wurden extrem hohe Giftkonzentrationen in Muscheln nachgewiesen, in denen sich das Gift ansammelt – ähnlich wie bei Krebsen, die die Wale aus dem Wasser filtern.

Die Lehre aus den Beobachtungen scheint klar: "Patagoniens Fjorde müssen auf jeden Fall geschützt werden – ideal wären 30 bis 50 Prozent jedes Habitats. Zudem müssen zahnlose Schutzbestimmungen verbessert werden", sagt Häussermann. Und natürlich müssen die Unterwasserlebensräume dieses mit 100.000 Kilometer Küstenlinie riesigen Gebiets noch viel besser erforscht werden. (Alois Pumhösel, 25.6.2021)