Die Erlösung nach bangen Momenten für die Deutschen im Spiel gegen Ungarn.

Foto: EPA/Lukas Barth-Tuttas

Auch Jogi Löw zeigte Emotionen.

Foto: imago images/Contrast/O.Behrendt

München – Mit Hängen und Würgen vermied Deutschland das blamable Aus in der Gruppenphase. Joachim Löw hat daher zumindest noch ein Spiel als scheidender Bundestrainer. Ist am Dienstag im Klassiker gegen England nicht Schluss, ist ein Wiedersehen mit dem Wembley-Stadion aber sehr gut vorstellbar.

Kaum hatte er tief durchgeatmet nach der emotionalen Achterbahnfahrt gegen Ungarn, freute sich Joachim Löw auch schon auf die nächste Nervenschlacht. "In Wembley gegen England, das ist ein absolutes Highlight, das ist das Schönste, was man sich vorstellen kann", sagte der 61-Jährige, für den jedes Spiel das letzte als Bundestrainer sein kann. "Jetzt", sagte Löw bedeutungsschwer, "geht es darum: alles oder nichts!"

"Nervenkrimi" in München

Wieder, hätte er noch anfügen müssen, denn grenzenlose Euphorie und katastrophales Scheitern liegen bei seiner Mannschaft extrem nahe beieinander. Löw ist im Spiel gegen die tapferen Ungarn in München seinen Posten längere Zeit losgewesen, als er ihn noch innehatte. Erst Youngster Jamal Musiala in seinem ersten Turniereinsatz und Leon Goretzka (84.) retteten ihn.

"Das war so verflucht knapp", schrieb Abwehrchef Mats Hummels nach der Rückkehr ins Camp zu Herzogenaurach schon in der Morgendämmerung auf Instagram. Robin Gosens sprach von einer "Achterbahnfahrt der Gefühle" und Kapitän Manuel Neuer, die Regenbogenbinde am linken Handgelenk, von einem "absoluten Nervenkrimi". Zwischenzeitlich, gab er zu, seien bei ihm die dunklen Erinnerungen an das WM-Desaster von 2018 in Russland hochgekommen.

Löw, der im Dauerregen mit weißer Kapuzenjacke phasenweise wie ein begossener Pudel dagestanden hatte, ächzte: "Das war nichts für schwache Nerven." In seinen 15 Amtsjahren sei es "eines der schwierigsten Spiele überhaupt" gewesen, aber an ein Scheitern habe er "wirklich nicht" gedacht.

Des Trainers Sturheit

Hatte Löws Sturheit die Deutschen gegen Portugal (4:2) noch zu ungeahnten Höhen beflügelt, führte sein fast blindes Beharren diesmal um ein Haar ins nächste Debakel. Seine Außenspieler vor der Dreierkette blieben stumpf, die von ihm verordneten Halbfeldflanken waren das völlig falsche Mittel. Mindestens ebenso unverständlich war die Idee, den enttäuschenden Leroy Sané in die Rolle von Joshua Kimmich auf die rechte Seite zu zwingen.

Bei den Gegentoren durch Adam Szalai (11.) und Andras Schäfer (68.) fehlte jede Tiefenstaffelung. Nach Ballverlusten, schimpfte Chefkritiker Kimmich, habe sich die deutsche Auswahl "sehr, sehr schlecht" verhalten, "das ist nicht unser Anspruch gegen den Ball". Trotz der Vorfreude auf Englands Fußball-Tempel, wo am 7. Juli auch ein mögliches Halbfinale und vier Tage darauf das Endspiel stattfinden sollen, sei die schwache Leistung "ein gewisser Stimmungsdämpfer".

Löw aber sah keine Veranlassung zu grundlegenden Veränderungen – auch nicht, nachdem Ungarn das 1:1 von Kai Havertz (66.) gekontert hatte. "Man musste ab der 70. Minute keine taktischen Kniffe mehr auspacken." Stattdessen seien "Gewalt" und "alle Kraft" gefordert gewesen. Die Brechstange als letztes Mittel – und das vom einstigen Stilisten Löw. Dem Erfolg sei alles unterzuordnen.

Maximal Niederlande

Der könnte sich tatsächlich in größerem Umfang als gedacht einstellen. Die Deutschen sitzen bei dieser Europameisterschaft buchstäblich auf dem besseren Ast. Kommen sie über England drüber, wartet der Sieger der Partie Schweden gegen Ukraine im Viertelfinale. Im Halbfinale wäre der Überlebende des Quartetts aus Wales, Dänemark, Niederlande und Tschechien der Gegner. Den anderen Ast zieren alle Favoriten, also Frankreich, Italien, Belgien und Portugal.

Aber zuerst geht es gegen Englands "junge Wilde", die bisher nicht wirklich überzeugt haben. "Angst", sagte Löw, brauche Deutschland vor der Partie am Dienstag (18, ORF 1) nicht zu haben. "Wir werden anders auftreten." Dieselben Fehler darf sich sein Team im ewig jungen Klassiker nämlich nicht erlauben: "Es gibt jetzt kein Pardon mehr."

Rundumschlag von Matthäus

Ähnlich sah dies Lothar Matthäus. Der DFB-Rekordnationalspieler hat den Auftritt der Deutschen am Mittwoch als "ganz schlechtes Länderspiel" bezeichnet. Das sagte der Interwetten-Markenbotschafter am Dienstag in einer Videoanalyse. Das Weiterkommen sei aus seiner Sicht "ein ungerechtes Ergebnis".

Matthäus kritisierte die deutsche Leistung scharf: "Hinten gab es Probleme, vorne keine Durchschlagskraft, wenig Leidenschaft, kein Zweikampfwille, Giftigkeit und Kompaktheit, die wir gegen Portugal bewundert haben", sagte er: "Löw hat sich wieder auf Spieler verlassen, die ihn wieder einmal enttäuscht haben. Er muss endlich aufwachen."

Ein Lob verteilte er an den eingewechselten Youngster Jamal Musiala, der an der Entstehung des späten Ausgleichstreffers durch Leon Goretzka beteiligt gewesen war. "Er ist zehn Minuten vor Spielende reingekommen, hat für Gefahr gesorgt und das 2:2 mit einer Leichtigkeit über die linke Seite vorbereitet", sagte Matthäus: "Er ist der Gewinner dieses Spiels und Jogi Löw sollte endlich erkennen, dass er sich auf die jungen Spieler verlassen kann – auf einige, die schon länger dabei sind, nicht."

"Die Besten spielen lassen"

Auch die Abwägung zwischen Dreier- und Viererkette stellt sich aus Matthäus' Sicht nach dem Ungarn-Spiel erneut. "Vieles funktioniert nicht", sagte er. Löw müsse "jetzt die richtigen Entscheidungen treffen, egal ob ein Spieler schon zehn Jahre dabei ist oder erst zwei Monate. Er muss die Besten spielen lassen, um nicht nochmal so ein Spiel zu erleben."

Ungarn hingegen habe, sagte Matthäus, allen drei Gruppengegnern das Leben "sehr, sehr schwer gemacht" und könne sich "erhobenen Hauptes von der EM verabschieden". Der Franke war einst zwei Jahre lang ungarischer Nationaltrainer gewesen. (sid, lü, 24.6.2021)