Das Setting aus dem uns die Rezepte überliefert sind, ist die herrschaftliche Küche, die Küche der Reichen, die ein professionelles Küchenpersonal angestellt hatten. In diesen Küchen gab es vergleichbare Hierarchien zu den Küchen der Spitzengastronomie von heute, und auch die Ausbildung wurde in Form einer Lehre mit abschließenden Prüfungen absolviert. Der größte Unterschied war wahrscheinlich, dass es bis ins ausgehende Hochmittelalter so gut wie keine Aufzeichnungen aus diesem Bereich der artes mechanicae, den sogenannten "praktischen Künsten", also vom damit verbundenen handwerklichem Wissen gab. Die früheste deutschsprachige Sammlung an Kochrezepten, die uns als Schriftdokument überliefert ist, stammt erst von circa 1350! Kochrezepte wurden im Zuge der Ausbildung nämlich von Küchenmeister zu Kochlehrling mündlich weitergegeben. Bis zu einem Zeitpunkt an dem sich herausgestellt hat, dass dies eventuell nicht die nachhaltigste Lösung ist.

Rezepte wurden im Mittelalter nur selten niedergeschrieben, sie wurden auswendig gelernt.
Foto: Helmut W. Klug

4.500 Kochrezepte

Der Höhepunkt der Aufzeichnung von mittelalterlichen Kochrezepten war im Spätmittelalter. Dennoch können die Rezepte herangezogen werden, um ein breiteres Bild zur Küche der Reichen des Mittelalters im Allgemeinen zu erhalten, da andere Quellen zeigen, dass ähnliche Gerichte nicht nur im Spätmittelalter, sondern auch in den Jahrhunderten davor serviert wurden.

Um für das Forschungsprojekt CoReMA - Cooking Recipes of the Middle Ages ein überschaubares Korpus an Rezepttexten zu erhalten, wenden wir einige der üblichen Einschränkungen an: Die einprägsamen Jahreszahlen 500 bis 1500 begrenzen für uns das Mittelalter, damit grenzen wir uns von der Antike und von der frühneuzeitlichen Kochrezeptüberlieferung ab. Dies ist selbstverständlich eine eher willkürliche Entscheidung, da die kulinarische Geschichte nicht immer parallel zu anderen historischen Entwicklungen verläuft – aber um inhaltliche Trennlinien zu finden, wäre es notwendig, auch die Rezeptsammlungen nach 1500 zu bearbeiten und dann daraus Regeln für die Abgrenzung zu definieren. Die Beschränkung des Korpus auf handschriftliche Quellen schließt vor 1500 nur eine Quelle aus: Die Küchenmeisterei, die erste gedruckte Sammlung in deutscher Sprache von der es ab 1485 vier Ausgaben vor 1500 gibt. Unter Anwendung dieser Parameter besteht das deutschsprachige kulinarische Erbe des Mittelalters aus etwa 4.500 Kochrezepten, die in 60 Rezeptsammlungen zusammengefasst sind. Diese sind in fast ebenso vielen Handschriften überliefert.

Die Rezeptsammlungen sind meist Teil von Sammelhandschriften, in denen unterschiedliche Texte aus den Bereichen Medizin (Traktate, diätetische Texte, Rezepte), Haushalt und Haushaltsführung (über Gartenarbeit, Veredelung, Fleckenentfernung, Tinten-, Leim- oder Schmierenrezepte), mit einer Mischung aus Rechtstexten, theologischen und literarischen Texten überliefert sind. Es gibt nur zwei Ausnahmen: eine Basler Handschrift (Basel, UB Basel, AN V 12), die die Sammlung des Küchenmeisters Hanns enthält, ist ein einzelner Codex und eine Berliner Sammlung (Berlin, GStA PK, XX. HA, OBA, Nr. 18384) besteht nur aus fragmentierten Papierlagen - das sind jene Blätterbündel, die zu einem Buch zusammengebunden werden.

Rezeptsammlung: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 16.17. Aug. 4°, fol 99r.
Foto: Creative Commons BY-SA 3.0

Wie Kochrezepte überliefert werden

Dafür, wie diese Rezepte in diese Handschriften kommen, gibt es mehrere Möglichkeiten: Die beiden klassischen Theorien sind, dass sie entweder von einer bereits vorhandenen Handschrift abgeschrieben (also kopiert) wurden oder dass eine neue Sammlung aus mehreren, bereits bestehenden Sammlungen kompiliert, also ausgewählt und zu einer neuen Sammlung zusammengesetzt wurden. Beide erscheinen, wenn man sich die Kochrezepttexte im Vergleich näher anschaut, als allgemeingültige Überlieferungsmodelle unwahrscheinlich. Es gibt unter den 60 Sammlungen nämlich nur zwei, die (nahezu) wörtlich kopiert worden sind, womit das erste Erklärungsmodell als Allgemeinthese ausfällt. Gegen die zweite These, die man auch nur auf höchstens zwei Sammlungen anwenden kann, spricht, dass es wohl kaum eine große Menge an des Schreibens kundigen kulinarisch Interessierten gab, die aus alten Texten neue Rezeptsammlungen zusammengestellt haben. Aber auch die Rezepttexte selbst unterstützen diese Theorien nicht, da sie in der Regel einen so individuellen Wortlaut und Inhalt für die Beschreibung gleicher Speisen aufweisen, dass die Arbeit mit einer Vorlage unwahrscheinlich erscheint. 

Unter den 60 Sammlungen gibt es also eine Abschrift eines spätmittelalterlichen Originals, eine modernisierende Bearbeitungen eines lateinischen diätetischen Textes aus dem frühen Mittelalter und dessen Kopie, eine Übersetzung einer lateinischen Sammlung arabischer Rezepte, eine Sammlung vorwiegend italienischer Rezepte und zumindest drei Rezeptsammlungen, die namentlich genannten Köchen zugewiesen werden. Für die restlichen Rezeptsammlungen sind keine "besonderen" Informationen zur Überlieferung bekannt; sie beinhalten individuelle Rezepte und eine Vielzahl an mittelalterlichen Klassikern, die mehrmals überliefert sind.

Die Mehrfachüberlieferung schafft aber Raum für eine weitere These, die sich vor allem an der textlichen Varianz der Rezepte orientiert: Aufbauend auf der eigentlichen, mündlichen Tradition der Rezeptüberlieferung spricht einiges dafür, dass viele der Rezeptsammlungen direkt vom Küchenmeister in die Feder eines Schreibers diktiert wurden, um dessen Rezeptschatz schriftlich festzuhalten. Die einzelnen Sammlungen sind individuelle Dokumentationen des Rezeptwissens einer (meist unbekannten) Person. Es gibt neben den nur einmal überlieferten Rezepten ein Korpus an Kochrezepten, dessen Rezepte überregional – ja sogar in ganz Europa! – bekannt waren. Die unterschiedlichen Textvarianten, die ein und dasselbe Gericht beschreiben, belegen das eindrucksvoll.

Was charakterisiert die mittelalterliche Küche?

Neben den spannenden Fragen zur Überlieferung der Rezepte, bieten eben diese Highlights am laufenden Band: Ungewohntes mischt sich mit Bekanntem, der Ideenreichtum der mittelalterlichen Köche fasziniert immer wieder und jedes Rezept öffnet ein neues Fenster in eine vollkommen andersartige kulinarische Welt. Die Unterschiede zur heutigen Küche – die aber auch noch Relikte der mittelalterlichen Küche aufweist – sind gravierend: Die technischen Voraussetzungen waren vollkommen andere. Die Palette der Zutaten war eigentlich eingeschränkt – aber auf eine gewisse Weise wiederum breiter. Die Speisenvorlieben unterscheiden sich in Bezug auf Geschmack und Aroma aber auch in Bezug auf die Texturen von Speisen gravierend und manche Gerichte wären heutzutage undenkbar, andere sind wiederum zentral für bestimmte Ernährungstrends.

Im Mittelpunkt der mittelalterlichen Küche (als Raum) war der gemauerte, in etwa kniehohe Kochherd. Auf diesem brannte nahezu immer ein Feuer, das mit Holz oder Holzkohle betrieben wurde. Darüber und darum waren Grillroste, Drehspieße und Kesselgehänge angebracht. Das Kochgeschirr war manchmal aus Eisen, viel öfter aber aus Ton – alles in allem also doch recht anders als in der heutigen Küche. Die in den Rezepten beschriebenen Garmethoden unterscheiden sich allerdings nicht so sehr von den Möglichkeiten, die es heute gibt: Kochen, Blanchieren, Garen im Wasserbad, Dünsten, Rösten, Grillen, Braten, Schmoren, Backen, Frittieren, ja sogar Niedrigtemperaturgaren. Das wurde recht einfach umgesetzt, indem das Grillgut am Spieß oder das Kochgut im Topf nicht bei großer Hitze kurzgebraten, sondern mit etwas Abstand zu den Flammen nur mäßiger bis geringer Hitze ausgesetzt wurde. Als Finish wurde das Fleisch abschließend kurz bei großer Hitze gegrillt. 

Frittiert wurden die unterschiedlichsten Dinge (meist im Backteig), aber ein Rezept aus einer Wiener Handschrift erinnert doch sehr stark an eine heute noch sehr beliebte Suppeneinlage, den Backerbsen:

Walke einen Eierteig mit dem Walkholz einen halben Finger dick aus, schneide ihn dann würfelig, so groß wie Saubohnen. Wirf den Teig in heißes Schmalz, er ist schnell gebacken. Gieße das Schmalz ab und lass die Bohnen trocknen. Erhitze eine Eierbrühe oder eine andere Suppe und gib die Bohnen da hinein. Das sind Teigbohnen. Vor Nässe geschützt kann man sie lange Zeit aufbewahren.

Abbildung einer Küche aus der Kuchenmaistrey, Augsburger Ausgabe von 1505.
Foto: Gemeinfrei

Eine Besonderheit der mittelalterlichen Küche ist das Spiel mit den Texturen der Speisen: Neben den knusprigen Bratkrusten der Grillgerichte oder der frittierten Krapfen (nein, keine Faschingskrapfen, sondern eher frittierte Schlutz-, Steirer- oder vergleichbare Krapfen) gibt es eine Vielzahl an Rezepten, in denen die Zutaten nicht nur mehrfach gegart (zum Beispiel zuerst gekocht oder zumindest halbgar gekocht und dann gegrillt), sondern danach auch noch fein zerstoßen und gemörsert wurden. Die Ergebnisse davon sind Faschierter Braten und Faschierte Bällchen, Fleisch- und Gemüsebreie und natürlich verschiedene Obst- und Kräutermuse. Erklärungsmodelle für diese Zubereitungsvorlieben gibt es mehrere, die von einer eher bösartigen, aber wahrscheinlich nicht unrichtigen "Schonkost für Zahnlose" bis hin zur Medizintheorie und Diätetik des Mittelalters (derart aufbereitete Speisen sind leichter verträglich) reichen. 

Ein Gericht, das nicht nur in der historischen Variante ein interessantes Speiseerlebnis verspricht, ist das Holundermus:

Pflücke die Holunderblüten und gib sie in süße Milch. Lass sie in der erhitzten Milch ziehen und seihe sie dann ab. Gib die Milch wieder in den Topf und rühre Weißbrotbrösel darunter und lasse es dann kochen bis es eindickt. Das ergibt ein puddingartiges Mus; mit Reisstärke anstelle der Brotbrösel zubereitet, schmilzt es geradezu auf der Zunge.

Dieses Mus kann aber zum Beispiel mit den Techniken der Molekularküche auch zu einem luftigen Mousse zubereitet werden:

ROLLING PIN

Gewürze und Saucen

Die mittelalterlichen Rezepte überliefern eine geradezu überschwängliche Aromenvielfalt, wie eine Analyse der Kräuter und Gewürze, die in den mittelalterlichen Rezepten genannt werden, zeigt: Ausgehend vom Aromarad von Thomas Vilgis wird deutlich, dass der Schwerpunkt im Bereich der erdigen, medizinischen Aromen lag. Die reichen Haushalte, für die diese Rezepte gedacht waren, hatten Zugriff auf eine große Auswahl an einheimischen und orientalischen Gewürzen. In Kombination mit den gängigen Säuerungsmitteln Wein, Verjus und Essig könnte man durchaus von einem eher angesäuerten Weihnachtsgeschmack sprechen, man würde damit der in den Rezepten überlieferten Geschmacksvielfalt aber Unrecht tun.

Eine spezielle Speisengattung, in der diese Vielfalt ganz besonders zum Ausdruck kommt, und die daher auch als diätetisch würzige Begleitung zu anderen Speisen gedacht war, sind die mittelalterlichen Saucen. Die hunderten Saucenrezepte können nach modernen Gesichtspunkten in Frucht-, Kräuter-, Gemüse- und Gewürzsaucen eingeteilt werden. Beispiele dafür wären eine Berberitzensauce, eine Grüne Sauce, eine Krensauce, Gewürzsenf oder eine Lebkuchensauce. Allesamt Saucen, die beim sommerlichen Grillfest natürlich nicht fehlen sollten, da sie für ein unvergessliches Geschmackserlebnis sorgen würden! 

Die Verteilung von Aromen auf Basis der im Mittelalter verwendeten Kräuter und Gewürze.
Foto: Helmut W. Klug

Die Faszination der mittelalterlichen Kulinarik

Was die mittelalterliche Küche aber so richtig spannend macht, sind die vielen Zutaten und Gerichte, die man in der modernen europäischen Küche in diesem Ausmaß nicht mehr, nur selten, oder erst seit kurzem wieder findet. Zur letzteren Gruppe gehören vor allem die Ersatzzutaten und -gerichte, die im Rahmen der mittelalterlichen Fastentage zum Einsatz kamen. Das sind vor allem Milch-, Ei- und Käseersatz aus Mandeln und anderen Nüssen, Mohn oder Hanf. Nicht selten liest sich eine Rezeptreihenfolge in einer Handschrift wie das vegetarisch-vegane Regal im Supermarkt um die Ecke, nur die Zutaten der einzelnen Speisen wirken in den alten Rezepten naturnaher als die modernen Inhaltsstoffe.

Zur Gruppe der heute eher selten verkochten Zutaten zählen unter anderem auch Innereien, zu denen eine Vielzahl an Rezepten überliefert ist. Dazu gehören auch so ausgefallene, aber eigentlich richtig witzige Rezepte wie die “Hosenträgersülze”, die aus Rehhaut zubereitet wird, oder jenes Gericht, bei dem von Hühnerkrallen umschlossene Fleischbällchen serviert werden. Mit diesen Gerichten klingt auch schon der verspielte Charakter an, der vielen mittelalterlichen Speisen bescheinigt werden kann. Die überlieferten Rezepte beschreiben in der Regel Gerichte, die nicht für das alltägliche Mahl, sondern für besondere Anlässe, Feste gekocht wurden. Daher war neben den besonderen Zutaten und der Kreativität der Zubereitungen auch ein gewisser Unterhaltungsfaktor gefragt, der in den vielen Schaugerichten der mittelalterlichen Küche zur Geltung kommt. Schaugerichte sollen die Gäste unterhalten, sie sollen als etwas Besonderes in Erinnerung bleiben. Das gelang sowohl mit bunt gefärbten Speisen (“Dreifärbiges Mandelgelee”), kreativen Zubereitungsweisen (“Ein ganzer Fisch auf dreierlei Art zubereitet”), mit geheimnisvollen Tricks (“Ein ganzes Huhn in einer Flasche zubereitet”), als auch mit Gerichten, die Zutaten außerhalb der Saison beinhalteten (“Morcheln zur Weihnachtszeit”).

Falsche Morcheln im Winter nach einem mittelalterlichen Rezept.
Foto: Helmut W. Klug

Kulinargeschichte festhalten

Im Zuge des vom FWF geförderten und in Kooperation mit Kollegen von der Universität Tours durchgeführten Projekts werden alle bis dato bekannten deutschsprachigen Kochrezeptsammlungen vor 1500 neu transkribiert und mit semantischen Informationen (zur Textstruktur, zu den Zutaten und so weiter) versehen. Alle diese Daten und ausführliche Beschreibungen der Handschriften sind frei im Internet zugänglich. Die Website bietet eine große Anzahl an Statistiken und Auswertungen auf Basis der Forschungsfragen des Projekts sowie einige interaktive Abfragemöglichkeiten der Daten. Damit wurde die Basis geschaffen, die Kulinargeschichte des Spätmittelalters endlich auch auf Basis der Kochrezepte zu schreiben. In den nächsten Monaten werden die letzten im Projekt erarbeiteten Daten freigeschaltet. Mit dem Projekt Science Ink (Förderung FWF Wissenschaftskommunikation) wird parallel dazu ein niederschwelliger und kurzweiliger Zugang zur mittelalterlichen Kulinarhistorik und den digitalen Forschungsmethoden geschaffen.

Marco Reif

(Helmut W. Klug, 2.7.2021)

Literatur

  • CoReMA - Cooking Recipes of the Middle Ages. Corpus - Analysis - Visualisation. Hrsg. v. Helmut W. Klug unter Mitarbeit von Astrid Böhm, Julia Eibinger und Christian Steiner.  With A. Böhm and C. Steiner. hdl.handle.net/11471/562.10 (GAMS. 562.10). 
  • Bruno Laurioux: Tafelfreuden im Mittelalter. Die Eßkultur der Ritter, Bürger und Bauersleut. Bechtermünz 1999.
  • Thomas Vilgis, Thomas und Thomas Vierich: Aroma. Die Kunst des Würzens. Stiftung Warentest, 2015.
  • Thomas Vilgis, Thomas und Thomas Vierich: Aroma Gemüse - Der Weg zum perfekten Geschmack. Stiftung Warentest 2017.

Weitere Beiträge im Blog