"In der Politik scheinen manche gar nicht so schlecht zu finden, dass der ORF im Netz nicht so stark ist, wie er sein könnte", sagt ZDF-Fernsehrat und Betriebswirt Dobusch.

Foto: Ingo Petramer

Der Mann wird kommende Woche mitentscheiden, welcher Chef oder welche Chefin den großen öffentlich-rechtlichen Sender die nächsten fünf Jahre führt.

Am 2. Juli bestellen 60 Fernsehräte des ZDF entweder den langjährigen Programmdirektor Norbert Himmler oder die Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios Tina Hassel. Fünf Wochen, bevor die 35 ORF-Stiftungsräte den nächsten Generaldirektor oder die nächste Generaldirektorin ab 2022 bestellen. Der österreichische Wirtschaftswissenschafter und Mitgründer des sozialliberalen Momentum-Instituts Leonhard Dobusch ist seit 2016 einer der 60 ZDF-Räte.

Und auch wenn er aus der Erfahrung im deutschen Gremium, aus der interessierten Beobachtung des ORF und aus seiner Forschung einige sehr deutliche Erkenntnisse und Ratschläge von Politikferne über öffentlichen Auftrag bis Streaming mitbringt: Eine Bewerbung für den ORF ist das nicht, versichert er, sichtlich amüsiert über die Frage: "Nein, eigentlich nicht. Ich bin gut ausgelastet, ich brauche keine Jobs."

Die Politik in der Anstalt

Player, Politik- und Parteieneinfluss, Neubestellung: ORF und ZDF beschäftigen die gleichen Themen. Aber: "Die Staatsferne ist eindeutig beim ZDF stärker abgesichert. Das merkt man jetzt bei der Intendantenwahl", sagt Dobusch im STANDARD-Gespräch.

In Deutschland entschied das Bundesverfassungsgericht 2014, dass "staatliche und staatsnahe" Menschen nicht mehr als ein Drittel der Mitglieder in den Aufsichtsgremien öffentlich-rechtlicher Sender stellen dürfen. Der Anlass damals: Auf Drängen der CSU/CDU wurde der Vertrag von ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender nicht verlängert.

Das ORF-Gesetz schließt zwar seit 2001 aktive Politiker und Parteimanager vom Stiftungsrat aus, während im ZDF-Fernsehrat auch Staatsminister und Staatssekretäre sitzen. Doch weiter bestimmen Regierung, Parteien, Bundesländer und indirekt das Kanzleramt 30 der 35 Mandate. "Im österreichischen Stiftungsrat dominieren die Schatten-Staatsbänkler", sagt Dobusch.

Parteipolitische "Freundeskreise" gibt es hier wie dort: Im ZDF sind rote und schwarze Freundeskreise etwa gleich stark. Im Unterschied zur ARD gibt es keinen dritten, "grauen" Freundeskreis, der Vertreter von Kirchen, Gewerkschaften und gesellschaftlichen Gruppen vereint.

Im ORF haben heute ÖVP-nahe Räte alleine die einfache Mehrheit, die für die Bestellung des ORF-Generals reicht. Im ZDF braucht der Intendant für die Bestellung drei Fünftel der Fernsehräte – und damit zumindest wesentliche Teile beider Freundeskreise.

Im ORF-Stiftungsrat wird seit 2001 offen über Generäle und Direktoren abgestimmt (was die Fraktionstreue fördert), im ZDF-Fernsehrat geheim.

Politikferne würfeln

"Der große Unterschied ist: In Österreich ändert sich die Mehrheit im Stiftungsrat mit jeder neuen Mehrheit nach einer Nationalratswahl und einer neuen Regierung. Das ist fatal. Das politisiert den ORF, parteipolitisiert den ORF. In Deutschland ändert sich nicht sofort der Zuschnitt des Fernsehrats." Der ZDF-Fernsehrat widerspricht Forderungen, den Stiftungsrat zu verkleinern: "60 Leute sind einfach weniger leicht zu kontrollieren."

"Ideal für Staatsferne" findet Dobusch ein Losverfahren: "Wir haben Geschworenengerichte, wir haben Schöffengerichte. Warum gibt es nicht Rundfunk-Schöffen? Man stelle sich vor: Ein Drittel der Mitglieder eines Stiftungsrats oder eines Fernsehrats wird per Zufall für zwei oder vier Jahre aus den Beitragszahlenden ausgewählt. Die sind garantiert nicht parteipolitisch vorgeordnet. Und um die müssen sich die anderen bemühen. Dafür braucht es einen offenen politischen Diskurs. Ich muss die überzeugen – ich kann sie ja nicht zwingen. Alle anderen müssen mit Argumenten um die kämpfen."

Organisationsforscher Dobusch, damals noch an der Freien Uni Berlin, kam 2016 als Vertreter des "Internets" als gesellschaftlicher Gruppe hinein, bestimmt von vier Berliner Verbänden, zwei Wirtschaftsverbänden sowie D64 und dem Chaos Computer Club.

Wiki-Player

Seine zentrale Forderung, auch schon im STANDARD-Gastkommentar propagiert: mit Gebühren finanziertes Material für Wikipedia-Nutzung freizugeben. "Das ist der günstigste Weg zu Reichweite. Bei Facebook und Youtube muss ich für Reichweite zahlen", sagt er. "Das sind bildungsrelevante Inhalte, die sollen gesehen und genutzt werden. Auf Youtube ist die nächste Empfehlung nach meinem Beitrag womöglich Verschwörungszeug. Das kann auf Wikipedia nicht passieren."

Das neue Zusammenspiel der Mediatheken von ARD und ZDF feiert Dobusch als Durchbruch. "Haarsträubend" findet er, dass Schweizer und Österreicher ihre Öffi-Player nicht technologisch gemeinsam mit den deutschen Sendern entwickelten.

Vorbild für öffentlich-rechtliche Mediatheken müsste das partizipatorische Youtube sein und nicht das elitäre Netflix: "Es braucht Interaktion, und es braucht nutzergenerierte Inhalte. Es muss den Nutzerinnen und Nutzern zumindest ermöglichen, Inhalte zu kuratieren – etwa Lehrern, Doku-Playlists zu erstellen und zu teilen."

Der ORF arbeitet bei der Gestaltung der Player-Oberfläche mit der Youtube- und Facebook-erfahrenen Agentur Saffron zusammen. Im Player-Grundkonzept waren Foren zum Austausch mit Programmmachern elementarer Bestandteil, auch User-Uploads waren in Teilbereichen vorgesehen.

"Bringen sogar Österreicher hin"

Dobusch: "Wenn das so kommt, dann kann ich endlich im ZDF-Fernsehrat sagen: Das bringen sogar die Österreicher hin."

Dafür müssten Onlinebeschränkungen im ORF-Gesetz geändert werden. "Mit jedem Jahr, in dem er all das nicht darf, zum Beispiel, was ARD und ZDF mit Funk für junge Zielgruppen auf sozialen Medien dürfen, wird es schwieriger für den ORF."

Sieht Dobusch ein Bewusstsein dafür im ORF? "Die Dramatik der Situation ist noch nicht überall angekommen. Da muss man zwischen ORF und Politik unterscheiden. Im ORF ist es vielen bewusst, sie leiden unter den Einschränkungen des Netzauftritts. Ich weiß etwa, dass Lisa Totzauer (ORF 1) dieses Problem sehr bewusst ist."

"Manchen ganz recht, dass der ORF digital nicht so stark ist"

"In der Politik scheinen manche gar nicht schlecht zu finden, dass der ORF digital nicht stark ist. Dort ist die redaktionelle Unabhängigkeit größer als in einigen anderen Redaktionen, die von öffentlichen Inseraten abhängig sind oder deren Eigentümer eine klare politische Ausrichtung haben. Ich unterstelle: Da ist manchen ganz recht, dass der ORF im Netz nicht so stark ist, wie er sein könnte, wenn man ihm mehr erlaubt." Im Gegenzug könnte der ORF online werbefrei werden.

Nachsatz: "Vielleicht gibt man einem neuen Generaldirektor oder einer Generaldirektorin ein neues Gesetz mit, damit sie auch arbeiten können." (Harald Fidler, 25.6.2021)