Ganz Italien schulterte Vittorio Pozzo nach dem 2:1-Sieg über die Tschechoslowakei im WM-Finale 1934 in Rom. Es ist der erste von vier italienischen WM-Titeln.

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23 Jahre liegt das jüngste Bewerbsduell Österreichs (Andreas Herzog) mit Italien (Filippo Inzaghi) zurück. Bei der WM 1998 siegte Italien 2:1.

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Italien erfindet sich gerade neu. Wieder einmal. Wenn man – jenseits der klischeehaften Rede vom Morbus catenaccistico, der Betoniererkrankheit – etwas Beständiges sucht in der langen, reichhaltigen Geschichte des italienischen Fußballs, dann findet man vor allem dieses eine: die erstaunliche Fähigkeit, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. 2018 die Qualifikation für die WM-Endrunde verpasst. 2021 einer der seriösesten Anwärter auf den EM-Titel. (Würde da – lasst uns doch ein bisserl mit den Augen zwinkern – am Samstag nicht Österreich warten im Achtelfinale.)

Dass Italien ein Titelfavorit ist, liegt – nicht nur, aber natürlich schon auch – am längst schon historischen Erfolgslauf unter dem aktuellen Teamchef Roberto Mancini. Das 1:0 gegen Wales war immerhin das 30. Spiel in Folge ohne Niederlage. Damit wurde der uralte Rekord des Allzeitgrößten – Vittorio Pozzo – eingestellt. Zuletzt gab es gar elf Siege in elf Spielen. Torverhältnis 32:0.

Kein Wunder also, dass sie ihn daheim, in den bekannt zurückhaltend formulierenden Sportzeitungen, längst mit diesem Vittorio Pozzo vergleichen. "Der Rekord", wiegelt Mancini freilich erwartungsgemäß ab, "interessiert mich nicht. Mich würde es interessieren, so wie er zweimal Weltmeister und Olympiasieger zu werden. Aber erst mal reicht mir auch der EM-Titel."

Ein Zusammenklauber

Der Turiner Vittorio Pozzo (1886–1968) war einer der Gründerväter des modernen europäischen Fußballspielens. Wie alle anderen Gründerväter auch war er ein diesbezüglicher Zusammenklauber. Er lernte – no na – bei der Mutter England. Er lernte aber vor allem bei den Grasshoppers in Zürich. Die Schweiz war vor dem Ersten Weltkrieg ja ein ballesterischer Superspreader.

Er lernte auch in Übersee. Als einer der wenigen Europäer reiste er etwa im Jahr 1930 zur Endrunde der ersten Weltmeisterschaft nach Uruguay, von wo er nicht nur einen neuen Blick mitbrachte, sondern gleich auch neue Spieler. In Argentinien gab es ja eine durchaus ansehnliche italienische Community. Den Vizeweltmeister Luis Felipe Monti vermittelte Pozzo gleich einmal zu Juventus nach Turin, um mit ihm dann 1934 erstmals Weltmeister zu werden. Denn bei der Staatsbürgerschaftsvergabe war das faschistische Italien im Fall des Falles und mit Duldung der Fifa recht großzügig.

Vittorio Pozzo – Sportjournalist und nebsther in den Diensten von Gummifabrikant Piero Pirelli, einem der ersten großen Fußballsponsoren Italiens – coachte das Team 1912, 1924 und dann die lange Periode von 1929 bis 1948. Zweimal, 1934 und 1938, wurde er Weltmeister, 1936 Olympiasieger.

Monti konnte treten

Früh schon hatte Pozzo den Spielverkehr mit den Nachfolgestaaten des Kriegsgegners gesucht. Der Calcio Danubiano, wie er in Prag, Budapest und auch Wien gepflegt wurde, war dann eine weitere Lernhilfe für die ballesterische Italianità, die es damals schon verstand, die ballfühlige Eleganz mit zuweilen ruppigster Direktheit zu verbinden. Monti, ein gefürchteter Gegner im Mitropacup, wurde nicht ohne Grund manchmal "Pferd" genannt; nicht weil er einem solchen ähnelte. Sondern weil er wie eines zu treten wusste.

Schon unter Vittorio Pozzo deckte der italienische Fußball – der sich auch nährt von der herzzerreißenden Leidenschaftlichkeit dieses großen, in sich so unterschiedlichen Landes – eine immense Bandbreite ab. Italien konnte stets treten wie ein Pferd und tänzeln wie eine Ballerina. Und dazu kam, früh schon, eine bemerkenswerte taktische Disziplin italienischer Kicker, die bis heute zu dieser unverkennbaren Italianità zählt.

Straßenbahn und Eisenbahn

Als einziges Teilnehmerland im ersten europäischen Cupbewerb, dem Mitropacup und dem parallelen Europacup der Nationen, konnte Pozzo auch personell aus dem Vollen schöpfen. Es war Österreichs Hugo Meisl, der einmal gemeint hat, Pozzo brauche, um seine Spieler zu beobachten, die Eisenbahn. Ihm, Meisl, genüge die Straßenbahn; und so war es in Budapest und in Prag.

Pozzo und Meisl schätzten einander sehr. Das ging so weit, dass Hugo Meisl auch Benito Mussolini schätzte, der sich von der Sonne des gerade aufgehenden Fußballs bescheinen ließ. Kennengelernt haben die beiden einander schon 1912, beim ersten olympischen Fußballturnier in Stockholm, einem noch viel zu wenig beachteten Ausgangspunkt der europäischen Fußballentwicklung. Gemeinsam suchten die beiden immer wieder neue taktische Varianten. In den 1920er-Jahren wurden sie beim FC Arsenal und dem 3-2-2-3 des Herbert Chapman fündig. Pozzo machte daraus die "metodo", ein sehr flexibel verwendbares 2-3-2-3. Eine Grundvariante, die sich in alle Richtungen interpretieren ließ.

In Stockholm kam es auch zum ersten Aufeinandertreffen zwischen dem österreichischen und dem italienischen Team. Österreich siegte 5:1. Das folgende Spiel gegen Finnland ging in die Verlängerung. Dort aber verloren die Italiener 2:3. Schiedsrichter der Begegnung war Hugo Meisl.

Insgesamt 36 Mal spielten Österreich und Italien bisher gegeneinander. Mit zwölf Siegen, acht Unentschieden und 16 Niederlagen erscheint die Bilanz fast ausgeglichen. Aber das täuscht. Die zwölf Siege stammen – bis auf das 5:1 von 1912 – allesamt aus freundschaftlichen Begegnungen. Dort, wo es um was ging, war dann stets die Squadra erfolgreich.

Abirrungen und Effizienz

Auch die Effizienz – man sollte das nicht vergessen angesichts der neu entdeckten Spielfreude – war stets Teil der Italianità. In den Zeiten defensiver Abirrungen wurde damit nicht nur einmal ein unansehnliches 1:0 ernudelt. Bei der WM 1982 überstand Italien die Vorrunde mit drei Remis, um im Finale Deutschland mit 3:1 zu entzaubern. Es war der dritte WM-Titel, und Luis Monti trug dabei den irreführenden Namen Claudio Gentile. Der vierte folgte 2006 – wir erinnern uns: Zinédine Zidane versus Marco Materazzi. Den bisher einzigen EM-Titel holte Italien 1968 gegen Jugoslawien. Im Elferschießen.

Am Samstag in Wembley wird die üppige gemeinsame Geschichte zwischen Österreich und Italien – die auf Vereinsebene von Ernst Ocwirk bis Herbert Prohaska ja noch viel inniger gewesen ist – fortgeschrieben. So oder so. Im Fußball, sagt man ja, ist alles möglich. Denn der Ball, so sagt man auch, ist rund. Es sind – und so sagt man, wissend um die Austrianità, bei uns – ja auch schon Hausherren gestorben. (Wolfgang Weisgram, 25.6.2021)