Der neue Public-Value-Bericht 2021 beschäftigt sich mit "101 Fragen zur digitalen Zukunft des ORF". Anhand von fünf Qualitätsdimensionen ("Digital Me", "Digital Us", "Digital Local", "Digital Global", "Digital Platform") werden Zahlen, Daten und Fakten in recht kreativer Manier präsentiert und mit Berichten von ORF-Mitarbeitenden, Medienexperten und Wissenschaftern zum Thema digitale Transformation angereichert.

In der Tat: Es geht um die Zukunftsfähigkeit des nationalen Medien-Champions. Er ist ja in der Frage des gegenwärtigen Medienwandels mehr gefordert denn je. Disruptive Entwicklungen in den Kommunikationstechnologien führen zu massiven Veränderungen in der Mediennutzung und zerstören über Jahrzehnte ausgebildete Strukturen in den heißumkämpften Terrains Fernsehen, Streaming, Social Media und Internet. Der ORF hat starke Konkurrenz bekommen, gleichzeitig erodiert das Vertrauen, insbesondere der Jüngeren.

Lieferant für Bildung

Politik und Zivilgesellschaft sollten aber wissen: Österreich braucht einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der ORF kann den Wandel in die digitale Medienzukunft schaffen, ist er doch größter Medienkonzern – mit den meistgesehenen und meistgehörten Programmen des Landes, der meistgelesenen Onlineplattform und mehr Einnahmen als die größten Verlagshäuser zusammen. Und nur so kann er auch seine wichtige kultur-, wirtschafts- und demokratiepolitische Funktionen mit Bravour erfüllen.

Er beliefert Österreicher und Österreicherinnen mit Information, Bildung und Unterhaltung, kann das demokratische Gemeinwesen beeinflussen – und ist dann erfolgreich, wenn er seine Funktion im Hinblick auf den öffentlichen Diskurs tatsächlich erfüllt und bei dem Publikum eine breitere Faktenbasis und breiteres Bewusstsein für die Vielfalt an Sichtweisen, Einstellungen und Meinungen schaffen kann.

Und dafür braucht es einen ausgewiesen starken ORF. Sein konvergentes Medienportfolio, 400 Stunden am Tag, 146.000 Stunden im Jahr, vier TV-Kanäle, zwölf Radioprogramme, das ORF.at-Netzwerk, die Videoplattform ORF-TVthek, neun Landesstudios, ein umfangreiches Korrespondentennetz, den ORF Teletext und vieles mehr umfassend, schafft einen offenkundigen Mehrwert für das österreichische Publikum.

Ob der ORF den "TransFORM"-Prozess erfolgreich meistern wird, wird sich noch zeigen. Skepsis ist jedenfalls angebracht. Galt öffentlich-rechtlicher Rundfunk lange Zeit als klassisches Qualitätsmedium im Sinne eines Leitmediums, befinden wir uns heute im Sog des "digitalen Vortex", einem Wirbelsturm, der die Märkte verändert.

Wie kann es der ORF schaffen?

Erste Erfolge lassen sich aber schon sehen, wenn auch verhalten. Mit Stolz verweist man heute auf 722.000 Userinnen und User für die im September 2019 gestartete "ZiB Insta" auf Instagram und kündigt gleich ein "personality-basiertes Newsangebot" für die Kurzvideoplattform Tiktok an. Und will damit die jungen Zielgruppen zwischen 16 und 24 Jahren ködern.

Trotzdem wird der ORF nur mit mehr Intelligenz, Interaktion und konvergenten Infrastrukturen als leistungsfähiges Medium reüssieren und zum Element einer neuen medialen Nutzungssituation werden. Weshalb?

Weil der Hegemonialanspruch des ORF in der konvergenten Medienwelt bröckelt und dort Innovation, Vielfalt und Diversität dort als Strukturprinzipien gelten. Kurz: Die Meinungsbildungsrelevanz des publizistischen Konkurrenzmedien nimmt hinsichtlich der Kriterien Reichweite, Verdrängung anderer Medien, journalistische und politische Relevanz, Bewegtbild und Aktualität zu. Das schwächt den ORF. Youtube, Netflix, Amazon ist bei jungem Publikum eben vor klassischem TV.

Wie schafft es der ORF, gegen das digitale Angebot der anderen zu bestehen?
Foto: APA/HANS PUNZ

"Public Value": Leitbild oder Leerformel?

Die akademische Debatte über den öffentlichen Wert von Rundfunk über alle Angebote und Altersgruppen ist jedenfalls komplex und ziemlich verwirrend. Das liegt zum einen an der hybriden intellektuellen Architektur des "Public Value"-Begriffs, die zu konkurrierenden wissenschaftlichen Diskursen führen. Einig ist man in der Sache nicht.

Im Kern geht es in der Public-Value-Debatte um die Frage, welche Programme Werte für die Gesellschaft vermitteln und wie öffentlich-rechtlicher Rundfunk (alias PSM, Public Service Media) institutionell gesellschaftsrelevante Inhalte produziert, auf diversen Plattformen und Kanälen vertreibt und damit zur sozialen Integration durch die Herstellung von Öffentlichkeit beiträgt.

Public Value ist ja zunächst der Wertbeitrag und Nutzen, den eine Organisation für eine Gesellschaft erbringt. Entscheidend ist aber, dass dieser von der Gesellschaft wahrgenommene Wertbeitrag individuell erfahren, akzeptiert und auch honoriert wird. Erst durch individuelle Wertschätzung im Sinne einer Nutzenmaximierung beim Konsum entsteht auch gesellschaftliche Akzeptanz für das Kollektivgut öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Pointiert formuliert: "Public value is what the public values."

Damit Public Value also nicht zur Leerformel wird, gilt es ein zentrales Problem zu lösen: Was als Public Value gilt, ist nicht nur Definitions- und Aushandlungsproblem von gesellschaftlichen Partikularinteressen im Sinne des Gemeinwohls, sondern im Wesentlichen auch ein Evidenzproblem.

Denn nur so wird der Nutzen, den ein Individuum aus dem Konsum von TV-Programmen und anderen Bewegtbildangeboten zieht, zum nachweisbar universalen Wert. Wird dieser individuelle Nutzen nicht generiert, gibt es keine Zahlungsbereitschaften und dann wird auch kein gesellschaftlicher Wert generiert, und damit auch keine Öffentlichkeit. In der Medienökonomie entscheiden eben individuelle Konsumpräferenzen über den Nutzen eines Marktangebots. Das ist auch bei Public Service Media im transformationalen Wettbewerb nicht anders.

Der "Public Value Scorecard" als Lösung

Es muss also gefragt werden: Wie kann der ORF unter gegebenen politischen Rahmenbedingungen die geforderten Leistungs- und Nutzennachweise in einem Prozess erbringen, in dem sich etablierte publizistische Massenmedien kostenintensiv modernisieren müssen, der Wettbewerbsdruck durch den Eintritt medienferner Unternehmen wie Google, Facebook, Netflix und Co. in klassische Medienmärkte ständig steigt, und zugleich Entwicklungsgarantien vom Willensbildungsprozess eines kollektiv als wünschenswert erachteten Wertekanons im Sinne der Herausbildung kritischer (Gegen)Öffentlichkeiten demokratiepolitisch immer wichtiger, aber im Kontext einer restriktiv angelegten Medienpolitik krisenhaft werden?

Die digitale Transformation und Mediatisierung der Gesellschaft erhöht jedenfalls das Anspruchserleben der Nutzer auf den Medienmärkten. Das bringt unweigerlich auch PSM unter Legitimations- und Erfolgsdruck.

Also – was macht den ORF nachweislich wertvoll für die Gesellschaft? Ein Public Value Scorecard (PVS) kann hier eine wertvolle Entscheidungsgrundlage für das Management von PSM sein und auch Evidenzen für die ausgegebenen Transformationsziele liefern. Die European Broadcasting Union (EBU) und die ARD haben bereits Scorecard-Frameworks entwickelt, um den gesellschaftlichen Wert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks evaluierbar zu machen. Dabei wurden zentrale Werte definiert und in verschiedenen Studien evaluiert.

Ziel ist es, die gesellschaftliche Debatte um die Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aktiv aufzunehmen und das Verständnis für dessen Wert auf breiter Basis zu verankern. In der "Declaration on the Core Values of Public Service Media" verpflichteten sich die EBU-Mitglieder auf sechs Grundwerte, durch die sich die EBU-Angebote von denen anderer Medienorganisationen unterscheiden:

  • Universalität ("Universality"): Schaffung eines Forums für alle Mitglieder der Gesellschaft, schrankenloser Zugang für alle auf allen technischen Plattformen;
  • Unabhängigkeit ("Independence"): unparteilich und unabhängig von politischen, kommerziellen und sonstigen Einflüssen, nur den Interessen des Publikums verpflichtet, Vertrauen, der Demokratie verpflichtet;
  • Vielfalt ("Diversity"): Pluralismus im Hinblick auf Programmgenres, vermittelte Ansichten und Mitarbeiter; Innovation: intensives Vorantreiben von neuen Formaten, neuer Technologien und von neuen Wegen, die Verbindung mit dem Publikum herzustellen;
  • Exzellenz ("Excellence"): Professionalität und hohe Qualitätsstandards zur Erfüllung der Publikumserwartungen;
  • Verantwortlichkeit ("Accountability"): Diskurs mit dem Publikum, Transparenz nach außen, Erfüllung und Kontrolle des öffentlichen Auftrags.

Wertvolles Programm

Damit diese Core Values auch erreicht werden, müssen diese operationalisiert und messbar gemacht werden. Dafür sind zunächst Kennzahlen von PSM als wertgetriebene Medienorganisationen zu identifizieren, welche dann im Scorecard-Modell sinnstiftend zusammengefügt werden. Konstitutives Element eines Public Value Scorecards ist die Ursache-Wirkungs-Logik. Durch diese wird die Unternehmensstrategie (Input) mit der Kundensicht (Output), diese mit der Prozesslogik (Process) und letztlich Gesellschaftsebene (Outcome) verbunden.

Der Public Value von PSM wird folgerichtig multi-dimensional erfasst. Und lässt sich anhand von Messzahlen einer strikten Hypothesenprüfung unterziehen (wie das etwa eine rezente Studie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften versucht hat: "Die Finanzierung öffentlich-rechtlicher Medien hat einen direkten Einfluss auf den Publikumserfolg. Rundfunkveranstalter mit einer höheren öffentlichen Finanzierung erzielen höhere Marktanteile, eine größere Relevanz als Informationsquelle und ein höheres Vertrauen in die Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen"). Als Medium und Faktor der öffentlichen Meinungsbildung trägt er dann nachgewiesenermaßen zum Gemeinwohl bei.

Das Besondere beim Einsatz eines Public Value Scorecards (PVS) für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist aber auch, dass menschliche Grundbedürfnisse als Bewertungsgrundlage für Public Value hinzugezogen werden. Die Public Value Forschung greift hier gerne auf die Cognitive-Experiential-Self-Theory von Epstein (1990) zurück.

Epstein verdichtet die in unterschiedlichsten Motivationstheorien benannten Grundbedürfnisse in vier Bereiche: 1. dem Grundbedürfnis nach Orientierung und Kontrolle, 2. dem Grundbedürfnis nach Selbstwerterhalt und Selbstwertsteigerung, 3. dem Grundbedürfnis nach positiven sozialen Beziehungen, und 4. dem Grundbedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung.

In der Summe gesehen, soll das ORF-Programm also nicht nur dem gesetzlichen Auftrag entsprechen, sondern auch und insbesondere beim Publikum als wertvoll wahrgenommen werden und Bedürfnisse nach Gemeinwohl wecken.

Am richtigen Weg

Es ist nochmals in Erinnerung zu rufen: "Der Wert eines öffentlich-rechtlichen Mediums zeigt sich an der Qualität und an der Vielfalt des öffentlichen Raumes, den sie mit anderen wichtigen Akteuren der Gesellschaft schaffen und gestalten. Ein Raum, in dem sich alle mit allen treffen können, in dem man sich informiert, diskutiert, entspannt, genießt, bildet, manchmal streitet, Ideen kreiert, zuhört. Ein Raum, den grundsätzlich alle mitgestalten können."

Public Value ist also nicht allein anhand von objektiven Messgrößen oder Performance-Indikatoren allein zu bewerten, sondern umfasst sämtliche Werte, die eine Organisation für die Gesellschaft erzeugt. Nur wenn dies nachweislich gelingt, kann auch von einem Wertetransfer gesprochen werden.

Man muss zu folgendem Schluss gelangen: Der ORF hat mit dem "Trans-FORM"-Prozess den richtigen Weg eingeschlagen. Er ist zwar nicht der einzige Garant für die Produktion von Public Value, denn auch andere Medien gestalten und schaffen Öffentlichkeit.

Mit dem "TransFORM"-Prozess ist er aber gutes Stück näher an das Publikum herangerückt und kann jetzt "neuer Intermediär" für Public-Value-Inhalte werden und sich in alle Richtungen öffnen. Sonst bleibt die Public-Value-Initiative eine reine PR-Veranstaltung.

Mit Public Value in der Ära des digitalen Wandels poliert man zumindest schon einmal sein Image als öffentlich-rechtlicher Werte-Champion auf. Der ORF wird aber an den Umsetzungserfolgen gemessen werden müssen. Und diese werden in der datengetriebenen Publizistik immer schwieriger. (Paul Clemens Murschetz, 1.7.2021)