Vom Glück und Sinn des Erzählens: Thomas Sautner.

Foto: Heribert Corn www.corn.at

Das Schreiben ist ausgesprochen mysteriös, mit dem Thomas Sautner seinen Roman Die Erfindung der Welt beginnt. Die Schriftstellerin Aliza Berg wird in einem Brief von einem Anonymus gebeten, der mit "G." – G wie Großonkel, Gröfaz, Gott? – zeichnet, einen Roman zu schreiben. Zwei Konditionen sind damit verknüpft.

Bedingung Nr. 1: "Der Roman soll das Leben zum Thema haben." Zweitens: anhand einer Landkarte das Leben in der darauf markierten Region und das Leben sämtlicher Bewohner zu beschreiben, "dem Leben hinter die Kulissen blicken, es erforschen, gleichsam mit Mikroskop und Teleskop, es mit unbestechlichen Augen wie neu entdecken – und damit womöglich erstmals wahrhaftig".

Wie anspruchsvoll. Wie ambitioniert. Und welch lockende Herausforderung. Hinzu kommt: Eine gar nicht unbeträchtliche Geldsumme sei bereits auf Bergs Girokonto angewiesen. Ihr, Berg, Autorin mehrerer Romane, stehe es frei, diesen Betrag als Vorschuss zu betrachten oder bei mangelndem Interesse als Geschenk, als "symbolische Wertschätzung".

Liebevolle Registratorin

Der farbig eingegrenzte Landschaftsausschnitt erweist sich bei ganz exakter Betrachtung als einzig bestehend aus Wald, Wiese und Teichen, "Pampagrün in verschiedenen Nuancen", plus einem senkrechten Fähnchen, das für Burg oder Schloss steht. Es stellt sich als Schloss Litstein heraus, auf dem Berg unterkommt, beim Ehepaar von Hohensinn, Elisabeth, kurz Elli, und Leopold, Graf auf Schloss Litstein oberhalb des gleichnamigen Ortes, in dem Berg und ihr Projekt ohne ihr Wissen schon im Vorfeld ihrer Ankunft groß annonciert wurden.

Aliza Berg ist eine aufmerksame wie liebevolle Registratorin dieser kleinen Welt. Der Rezeptionist etwa ist "ein stattlich runder Mann", dessen "Schnauzbart vibrierte". Die Leute sind freundlich. Der Fiat 500, den sie chauffiert, wird überaus zärtlich "mein kleiner Italiener" genannt. Sensitiv und minutiös wird beobachtet: "Die Minzblätter drehten (im Limonadeglas) eine stürmische Runde, tauchten im Sog des Strudels ab und – Äonen später – taumelnd gegen die Glaswand auf."

Was Aliza Berg, allseits intensiv auf Recherche gehend für den mäzenierten Roman, als sei sie der wiedergeborene, so exakt die Welt wiedergebende Naturalist Émile Zola, poetologisch von sich gibt, erinnert sanft an die literarische Schöpfung eines anderen Franzosen, an Saint-Exupérys Kleinen Prinzen. Diese Stelle etwa: "Das Gesicht unserer Kindheit. Alles ist darin enthalten, alles, was noch kommen mag, alles, was wir lieben und fürchten. Und auch alles, was wir uns nicht zu wünschen wagen. Und deshalb nie bekommen."

Romanweltkrise

Sie selbst verortet Sautner auf einer Stufe mit Ildikó von Kürthy oder Erfolgserzählern wie Nicholas Sparks oder Nicolas Barreau, bekanntlich das Pseudonym einer Münchner Teilzeitverlegerin, mit einem Schuss Elke Heidenreich und einem weiteren Teil Weisheitsautor Paulo Coelho.

Recht bald findet sich Aliza bestürzenderweise in einer Romanweltkrise. Und stößt außer auf eine Geheimkammer auch sonst auf Geheimes. Sie muss feststellen, dass die Ehe ihrer Gastgeber am Ende ist. Leopold ist lebensschwach und Elli befallen von einer raren Krankheit. Beide sterben am selben Tage.

Der 51-jährige Thomas Sautner, der in Gmünd im Waldviertel lebt, war lange Politikjournalist, bevor er 2006 sein erstes Erzählwerk veröffentlichte, Fuchserde, auf den in regelmäßiger Folge zehn Bände gefolgt sind, darunter, im Jahr 2019, das eindringliche, bewegende Großmutters Haus.

Leben in Geschichten

Die Erfindung der Welt ist sein achter Roman. Er, der einfach erzählen, unverstellt, vergnüglich-ironisch angehaucht und mit Sinnlichkeit erzählen will, zielt auf Großes ab, auf große Gefühle, kosmische Liebe, ekstatische Vermischungen von Körpern und Austausch von Körpersäften, auf Sinn und Glück und emotional tiefsinnige Opulenz.

Am Ende von Großmutters Haus, in dem immer wieder kunstvoll die Welt als Buch und das Buch als Welt beschworen wurde, las man den Satz, gesprochen von einer – Überraschung! – Schriftstellerin: "Ein guter Roman gleicht einem Perpetuum mobile." Daran knüpft gleich im ersten Siebtel anspielungsreich eine Stelle in Die Erfindung der Welt an, das Geschichten als Lebenserfindung und Leben als Geschichteninvention weiterführt.

Wie hieß es noch einmal in Großmutters Haus: "dann entdecken sie, hoppla, das waren nur die ersten Zeilen einer sich jäh auftuenden unendlichen Geschichte." Deren Titel? Die Erfindung der Welt. (Alexander Kluy, 26.6.2021)