Gedenkstätte Loibl Süd: Das sind die Reste der KZ-Außenstellen Mauthausen.

Foto: Klara Dunshirn

Es ist das erste Mal, dass ich die KZ-Gedenkstätte am Loibl, slowenisch Ljubelj, besuche. Spät, sehr spät, ich hätte mir schon viel früher die Zeit nehmen müssen. Umso herzlicher bedanke ich mich für die Einladung, bei der heurigen Gedenkveranstaltung Loibl Nord – Außenlager KZ Mauthausen zu sprechen, um an die Menschen verschiedener Nationalitäten zu erinnern, die hier in den Jahren 1943 bis 1945 gedemütigt, gequält und ermordet wurden. Unter den Opfern waren auch Slowenen, so nah von ihrer von den Nationalsozialisten besetzten Heimat.

Es ist unsere Aufgabe, unsere Pflicht, dieser Opfer zu gedenken, damit sie nicht der Vergessenheit anheimfallen, so wie die Täter das geplant hatten. Umso mehr, als wir nur zu gut wissen, dass viele Österreicher, unsere Väter und Großväter, unter den Tätern waren. Das gilt auch für die Lager am Loibl, in dieser hinreißenden Landschaft, die doch so viele grausame Geheimnisse birgt.

Teil der Gesellschaft

Wenn wir daran denken, was hier geschehen ist, dann müssen wir uns immer vor Augen halten, dass die Täter nicht isoliert gehandelt haben, gleichsam in einem dunklen Raum, streng abgeschottet nach außen. Die Täter waren vielmehr eingebettet in die Gesellschaft, sie waren ein Teil derselben und wurden von ihrer Umwelt problemlos akzeptiert, als liebende Ehegatten, Väter und Freunde.

Das wurde dadurch erleichtert, dass sie mehrheitlich keine abschreckenden Monster aus irgendeinem Hollywood-B-Picture waren, sondern sozusagen ganz gewöhnliche Menschen, die, so später ihre Rechtfertigung, nur ihre Pflicht erfüllt hatten. Nur ihre Pflicht!

Es war unvermeidlich, dass viele Menschen, wenn vielleicht auch unfreiwillig, mitbekamen, dass hier Menschen unter den grausamsten Bedingungen Zwangsarbeit leisteten, was viele mit ihrem Leben bezahlten. Durch ihr Schweigen, ihr Wegschauen haben die Bystander, die Zeugen, die Verbrechen gleichsam gebilligt und sich damit mitschuldig gemacht.

Unselige Tradition des Vergessens

Jedes totalitäre Regime braucht willfährige Bürger, die Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten gehorsam hinnehmen und vielleicht sogar Beifall klatschen, wenn die Demokratie und die Menschenrechte mit Füßen getreten oder gänzlich abgeschafft werden, wie das in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft geschehen ist. Das kollektive Schweigen der stumm gemachten Mehrheit lastet bis heute wie ein kalter, düsterer Schatten über unserem Land.

Nun könnte man sagen, das alles sei lange her, die Zeiten seien heute anders, und auch unser Zugang zur Vergangenheit müsse sich ändern, es sei nicht mehr zeitgemäß, ständig an die Opfer zu erinnern, ihre Namen aufzurufen und ihre Geschichten zu erzählen. Wir müssten sie endlich ruhen lassen, auch die Täter, und aufhören, in der Vergangenheit zu wühlen, um schmerzhafte Dinge auszugraben und in der Öffentlichkeit auszubreiten.

Demonstratives Fernbleiben als Signal

Tatsächlich stellt die Beschäftigung mit der Vergangenheit eine ungeheure Herausforderung dar, eine uns alles abfordernde Sisyphusarbeit, die nie wirklich zu Ende gebracht werden kann. Das ist nicht neu. Der französische Autor Gustave Flaubert schrieb im März 1857 in einem Brief an seinen Freund Maurice Schlésinger: "Man sagt, dass die Gegenwart schnelllebig sei, ich dagegen finde, dass uns die Vergangenheit verschlingt."

Gegen das Vergessen: Martin Pollack.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Die Vergangenheit verschlingt uns. Sie lässt uns nicht zur Ruhe kommen, sie wirft immer neue, oft quälende Fragen auf, Fragen, auf die wir nur zu oft keine Antwort wissen. Das heißt jedoch nicht, dass wir, wie viele verlangen, einen dicken Schlussstrich ziehen dürften, ganz im Gegenteil, gerade die gegenwärtige Entwicklung ist eine klare Aufforderung, uns mit den tragischen Ereignissen der Vergangenheit zu beschäftigen.

Immer aufs Neue. Verschweigen und Vergessen oder gar Verdrängen sind keine tauglichen Lösungen, auch wenn wir wissen, dass sie in Österreich eine so lange wie unselige Tradition haben.

Im Mai dieses Jahres fand erstmals in der Nachkriegsgeschichte der Republik die Befreiungsfeier im ehemaligen Konzentrationslager Mauthausen ohne Beteiligung der ÖVP statt. Der Bundeskanzler, die Minister und Parlamentsvertreter der großen Regierungspartei fanden es offenbar entbehrlich, im Jahr 2021 in Mauthausen, wie alle Jahre zuvor, im Rahmen einer parteiübergreifenden Feier ein Bekenntnis zur Demokratie und gegen den Faschismus abzulegen. Die Zeiten haben sich tatsächlich geändert.

Der Verdacht liegt nahe, dass es sich beim demonstrativen Fernbleiben der wichtigsten Entscheidungsträger nicht um einen einmaligen Ausrutscher handelt, sondern dass sie damit bewusst ein Signal setzen wollten. Ich sehe darin einen klaren Hinweis auf einen neuen Umgang mit der Vergangenheit. Die neuen Machthaber wollen bestimmen, was gedenkwürdig ist und was nicht.

Natürlich stecken dahinter auch handfeste politische Motive, so das Bestreben, sich an rechtsradikale Kreise anzubiedern und deren Argumente und Haltung zu übernehmen. Dass das auf Kosten der liberalen Demokratie geht, scheint die Vertreter der großen Regierungspartei vom Kanzler abwärts nicht zu stören, im Gegenteil.

Tief verwurzeltes Milieu

Es ist eine traurige Tatsache, dass rechtsradikale Kräfte in unserem Land heute noch einen fruchtbaren Boden finden, oder schlimmer: gerade heute wieder. Ich denke dabei an die zahlreichen sogenannten Einzelfälle, in denen Rechtsextremisten sich in aller Öffentlichkeit der Sprache und Symbolik des Nationalsozialismus bedienten. Dabei handelt es sich nicht, wie gern behauptet, um irregeleitete Außenseiter und Narren, sondern um ein tief verwurzeltes Milieu, das munter gedeiht.

Die Politik spielt dabei eine ausschlaggebende Rolle. Sie bereitet den Boden für den Rechtsschwenk, den wir seit geraumer Zeit auf vielen Gebieten beobachten müssen. Sebastian Kurz und seine Getreuen steuern das Land in eine Richtung, die fatal an die Entwicklung in manchen Nachbarländern erinnert, allen voran in Ungarn und Polen.

Diese Länder fungieren gleichsam als Versuchsstationen, in denen erprobt und stolz vorgeführt wird, wie man die freie Demokratie zerstören kann. Es beginnt mit Angriffen gegen die unabhängige Justiz und die freien Medien, die eingeschüchtert und an die Kandare genommen werden sollen, um sie schließlich restlos dem Machtapparat einzuverleiben. Parallel dazu soll die Zivilgesellschaft eingeschüchtert und nach Möglichkeit völlig entmündigt werden.

In Ungarn ist das bereits weitgehend gelungen, Polen ist auf dem besten Weg dorthin. Zu dieser Entwicklung gehört auch der Griff nach der Vergangenheit. Wie unter den Kommunisten beanspruchen die neuen Autokraten die Deutungshoheit über die Geschichte. Was die nationale Geschichte angeht, werden alle Schattenseiten ausgeblendet, und es wird ein völkischer Patriotismus verordnet, der unübersehbar nationalistische und europafeindliche Züge trägt.

So weit sind wir in Österreich noch nicht, Gott sei’s gedankt, doch die Zeichen deuten in diese Richtung. Hierzulande sieht sich die unabhängige Justiz immer brutaleren Angriffen der Regierenden ausgesetzt, ähnlich die freien Medien und die Zivilgesellschaft. Dazu gehört auch der Versuch, die Geschichte zu vereinnahmen und neu zu interpretieren, ganz im Sinn der neuen Politik. Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn Gedenkfeiern ignoriert und damit infrage gestellt werden.

Wir gehen unsicheren Zeiten entgegen

Alles das, was ich hier in gebotener Kürze schlagwortartig skizziert habe, hat mich bewogen, heute am Loibl das Wort zu ergreifen. Wir gehen unsicheren Zeiten entgegen, und jeder von uns ist aufgerufen, die Entwicklung genau zu beobachten und sich nicht von honigtriefenden Erklärungen regierender Politiker einlullen zu lassen.

Ich fürchte, dass sie nichts Gutes im Schilde führen. Gerade weil wir uns der Vergangenheit mit allen ihren dunklen Seiten verpflichtet fühlen, müssen wir wachsam sein und gegen alle demokratiefeindlichen Tendenzen lautstark protestieren. Es geht nicht nur um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die hier am Loibl wie in einem Brennglas gebündelt erscheint, es geht nicht nur um die Erinnerung an die Opfer und auch die Täter, die wir nicht vergessen dürfen, sondern es geht um unsere Zukunft, die auf der Vergangenheit aufbauen muss.

Nochmals: Wir müssen alles daransetzen, um dem Vergessen und Verdrängen entgegenzuwirken. Das sind wir den Opfern schuldig, aber auch uns selber und unseren Nachkommen, unseren Kindern und Enkeln, die in besseren Zeiten, in einer gesicherten Demokratie, aufwachsen mögen, so pathetisch das auch klingen mag. (Martin Pollack, ALBUM, 26.6.2021)