
Melis (27) sieht Army als einen Raum, in dem es keine Konkurrenz und keinen Wettbewerb gibt, sondern nur Positives. Sie nennt es ihren "Happy Place".
Boybands: Das ist vielstimmiger und ein wenig überproduzierter Gesang, etwas alberne Choreografien und oft recht schmachtige Melodien – ein makellos-hübsches Flauscherotikangebot, eingerieben in viel Schmalz. Vor allem in den 90ern waren die kommerziell zusammengeschraubten Pop-Bands groß, mit Typen wie Joey, Justin, Howie oder Robbie. Bekreischt von der Ohnmacht nahen Teenie-Mädchen, die tagelang vor den Konzertarenen campierten und deren Kinderzimmer bis in den letzten Winkel mit Postern ihrer Stars austapeziert waren. Spätestens seit der Pause der britisch-irischen Casting-Truppe One Direction 2016 wirkten Boybands wie ein aus der Zeit gefallenes Modell, genauso wie das Gebaren ihrer Fans, die Plakate mit der Aufschrift "Ich will ein Kind von dir" in die Höhe hielten, obwohl sie selbst noch Kinder waren.
Doch dann kam die südkoreanische K-Pop-Boyband BTS (kurz für Bangtan Sonyeondan – "kugelsichere Pfadfinder", siehe Kasten) – und eine neue Zeitrechnung begann. Sie seien ein "Gesamtkunstwerk", mehr noch: "Perfektion", sagen ihre Anhänger, die sich selbst "Army" ("Adorable Representative MC for Youth") nennen. Wir haben fünf von ihnen getroffen, die jüngste 19 Jahre alt, die älteste 36, um den Fan-Kult um die aktuell erfolgreichste Boyband der Welt zu ergründen.
Die "Army"-Besonderheit beginnt schon bei der Altersstruktur: Neben der 19-jährigen Hanna sind alle Fans, die wir treffen, dem Teenageralter entwachsen, reflektierte Frauen, die mitten im Berufsleben stehen oder studieren. In ihren Wohnungen hängen keine Poster; sie wollen auch definitiv keine Kinder von Jin, Jimin, V, Suga, RM, J-Hope oder Jungkook, wie die sieben Bandmitglieder heißen. Kann man in diesem Alter eine Boyband ironiefrei lieben? Fünf Augenpaare glänzen, sobald das Wort BTS fällt.
Dabei handle es sich schließlich um eine Gruppe, in der wirklich jedes Mitglied echtes Gesangs- und Tanztalent habe, die Liedtexte zu großen Teilen selbst geschrieben und produziert habe. Es sei bewundernswert, erzählen sie unisono, welch disziplinierte Arbeitstiere BTS seien, die sich – teilweise aus armen Verhältnissen stammend – hochgearbeitet hätten. Dass sie in ihrer Musik, ihren Musikvideos, ihren Webserien eine unvergleichbare Liebe zum Detail walten ließen und – am wichtigsten! – dass sie in allem, was sie tun, authentisch, ehrlich und ein positiver Einfluss seien.
Eine Komfortzone für alle
Das würden so vermutlich auch Fans anderer Boybands über ihre Idole sagen. Doch bei BTS gibt es noch andere Aspekte, die eine Rolle spielen. Melis, die vor sieben Jahren aus der Türkei nach Wien kam, um hier Politikwissenschaften zu studieren, sagt etwa, dass es ihr enorm gefällt, wie eine Gruppe aus einem kleinen Land in Asien international einen derartigen Hype verursacht – zumal ihre Texte großteils auf Koreanisch sind. Victoria, die durch K-Pop sogar zu ihrem Studium der Koreanologie inspiriert wurde, findet, dass BTS durch das Tragen weiblich konnotierter Kleidung Genderrollen aushebeln. Besonders für koreanische Verhältnisse wären BTS in ihrem Auftreten progressiv, ihre Fanbase sei sehr divers, sagt die Social-Media-Managerin Isa.
Klar, der Großteil der BTS-Fans sind natürlich sehr junge Mädchen, das bestreiten auch die Gesprächspartnerinnen nicht, aber eben nicht nur. Denn Army – man sagt nie "die Army" – will sich als Komfortzone für alle verstanden wissen.
Laut einer Studie, an der mehr als 400.000 Armys teilgenommen haben, sind 84 Prozent aller BTS-Fans weiblich, 49 Prozent sind älter als 18 Jahre. Etwa 40 bis 90 Millionen Army-Mitglieder gibt es nach Schätzungen weltweit, genau abgezählt wurde derlei freilich nie. Denn man muss nicht Mitglied eines offiziellen Fanclubs sein, es reicht, sich als Army zu identifizieren. Dazu gehört, nicht nur einen der Boys gut zu finden, sondern alle, erklärt Hannah, die den Twitteraccount @ArmyAustria mitbetreibt und Get-togethers für Armys in Ostösterreich organisiert.
Der Austausch unter Armys findet vor allem auf Twitter und Instagram, aber auch Apps wie Weverse statt. Auf der koreanischen Plattform unterhalten sich über zehn Millionen User nur zum Thema BTS. Wer Armys finden will, sucht sie dort.
Army ist Familie
"Für mich war diese Art von Fandom komplettes Neuland, früher hat man eine CD gekauft und dann tagelang gehört. Nach etwas Zeit auf Weverse habe ich verstanden, worum es eigentlich geht: Army ist eine Familie. Wenn da Mädels schreiben: ‚Ich hab grad mit der Mama gestritten‘, dann helfe ich ihnen mit aufmunternden Worten – und umgekehrt", sagt Katrin. Das sei der Kern der Bewegung: "Wenn ich auf Weverse etwas poste, kommt nur Nettes zurück. In einer Zeit, in der Cyberbullying ein gesellschaftliches Problem ist, ist das eine Gegenwelt, die frei davon ist. Army ist eine neue Kultur, nicht nur als Fandom, sondern auch wie Menschen miteinander umgehen."
Es gehe unter den Fans nicht um Konkurrenzgetue, nicht darum, wer die Band am meisten liebt – sondern um gegenseitige Unterstützung. Besonders wenn jemand gerade Probleme hat oder einfach nur reden will, ist man füreinander da.
Dass dieser soziale Raum entstehen konnte, rechnen die fünf österreichischen Armys der Band als Leistung an. Eben weil sie mit gutem Beispiel vorangehe. BTS sind dafür bekannt, sich karitativ zu betätigen. So spendeten die Musiker eine Million Dollar für die Black-Lives-Matter-Bewegung. In nur 25 Stunden verbreitete Army unter dem Hashtag #matchamillion das Engagement – und sorgte für eine Verdopplung der Summe. Auch der wertschätzende und freundliche Umgang miteinander, den BTS öffentlich vorleben, wird in der Army quasi vermillionenfacht.
Alles reines Kalkül?
"BTS sind das genaue Gegenteil von Toxic Masculinity: Sie zeigen Gefühle, sie weinen, sie sagen einander gegenseitig: ,Ich hab dich lieb.‘ Alles Sachen, die man von Männern, vor allem im Pop-Business, nicht so gewohnt ist", sagt Isa. "Army ist ihnen das Wichtigste, bei jeder Danksagung erwähnen sie Army zuerst. Auch deswegen fühlt man sich ihnen so nahe und verbunden", sagt Victoria.
Dass sich hinter dieser vermeintlichen Nähe auch Kalkül verbergen könnte, damit die Fans weiter in eines der rasant ausverkauften Konzerttickets und noch mehr in Merchandise wie Handyhüllen um 50 Euro investieren, wollen Armys nicht so gern hören. Sie reden lieber über die Band und das, was zu den Do's and Dont's als Army gehört. "Wenn ein neues Lied rauskommt, streame ich das auf Youtube nach den Army-Regeln, so wie es sich gehört", sagt Katrin.
Diese Vorgabe für Armys ist ein Teil des gigantischen Streaming-Erfolgs von BTS: Wer nicht korrekt streamt, wird vom Youtube-Algorithmus nicht als Video-View gezählt. Deshalb werden unter Armys Anleitungen ausgetauscht, die erklären, wie man es richtig macht. Schließlich gehe es darum, die Band zu unterstützen: "Die arbeiten zwölf Stunden am Tag, die motivieren mich, Dinge zu schaffen, die ich sonst nicht schaffen würde. Da möchte ich etwas zurückgeben", sagt Melis.
Idols am laufenden Band
Den Frauen ist durchaus bewusst, dass in der K-Pop-Welt nicht alles nur rosarot ist. Die südkoreanische Entertainment-Industrie produziert sogenannte Idols wie BTS am laufenden Band – mit Druck und Drill. Jugendliche, fast noch Kinder, werden von Entertainment-Companies gecastet und ziehen dann für einige Jahre in eine Art Bootcamp für K-Pop-Bands ein, wo sie gedrillt und dann zu kommerziell aussichtsreichen Gruppen zusammengeschraubt werden. Alkohol, Drogen oder Beziehungen sind im K-Pop-Universum eher tabu. So entstand auch BTS, die sich in ihrer Anfangszeit zu siebt ein Zimmer teilen mussten.
Zeit für Exzesse bliebe den Talenten ohnedies nicht. K-Pop-Gruppen sind Content-Maschinen, bei denen die Interaktion mit den Fans eine riesige, mit westlichen Verhältnissen nicht vergleichbare Rolle spielt. Auch die Idee einer Army als fest verschworene Fanbewegung ist nicht spontan entstanden, sondern Teil eines cleveren Marketingkonzepts.
Für die Anhänger spielt das keine Rolle. Denn BTS haben, kalkuliert oder nicht, einen Raum geschaffen, in dem sich vor allem junge Frauen sicher fühlen – on- wie offline. Und sie haben es geschafft, den entleerten Begriff der Boyband mit Inhalten zu füllen. "Ihre Liedtexte behandeln Themen wie Depressionen, Verlust- und Zukunftsängste", sagt Victoria. Dieses tiefe Verständnis für die Probleme der Fans gebe es bei anderen Pop-Stars nicht. BTS schaffen es, der Army das Gefühl zu vermitteln, dass man es gemeinsam auch aus schwierigen Situationen schaffen könne. "Love yourself" lautet die Botschaft, die von den Fans inhaliert wird. Und ganz ehrlich: Es gab im Pop-Universum schon schlechtere. (Amira Ben Saoud, 6.6.2021)