Sebastian Kurz (hinten) und Gernot Blümel im Wahlkampf 2019

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Eigentlich hätte sich die ÖVP keine großen Sorgen machen müssen. Nachdem im Mai 2019 das Ibiza-Video ein innenpolitisches Erdbeben ausgelöst hatte, profitierte vor allem sie, die neue Volkspartei. Zwar rückten in der Causa Casinos rasch auch Türkise in den Fokus der Ermittler, doch politisch gefährlich war die Angelegenheit vor allem für die FPÖ. Auch heute wird wohl noch einige Zeit vergehen, bis es, wenn überhaupt, zu Anklagen kommt.Und doch: Zahlreiche Probleme aus der türkisen Welt sind eskaliert – nach einer nahezu beispiellosen Serie an strategischen Fehlentscheidungen. Es gab eine Hausdurchsuchung beim amtierenden Finanzminister; der Kanzler wird als Beschuldigter geführt; es kam erstmals in der Geschichte Österreichs zu einer Exekution eines höchstrichterlichen Erkenntnisses gegen einen Minister durch den Bundespräsidenten. Man muss sagen: All das wäre vermeidbar gewesen.

Attacken gegen die Justiz

Zurück ins Frühjahr 2020: Das Coronavirus, das gerade in China entdeckt worden war, war medial höchstens eine Randnotiz. Für die ÖVP lief es bestens: Nach einem exzellenten Wahlergebnis hatte man erfolgreich die erste türkis-grüne Koalition der Geschichte verhandelt. Die Volkspartei hatte jede Chance, sich von den Skandalen des ehemaligen Koalitionspartners reinzuwaschen und einen Neustart zu probieren. Kaum stand die Regierung, griff Kanzler Sebastian Kurz in einem Hintergrundgespräch die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) an. Die Ermittler hatten kurz zuvor wegen der Casinos-Affäre Hausdurchsuchungen beim damaligen Öbag-Chef Thomas Schmid, bei Ex-Finanzminister Hartwig Löger sowie beim früheren Vizekanzler Josef Pröll und beim Raiffeisen-Manager Walter Rothensteiner durchgeführt.

Die Verdachtsmomente sind relativ komplex: Im Grunde geht es um die Frage, ob der Vorstand der teilstaatlichen Casinos Austria AG (Casag) aus parteipolitischen Gründen vorzeitig abberufen und neu besetzt wurde. Die Auszahlung der alten Verträge kostete den Steuerzahler mehrere Millionen Euro; wenn es dafür keine guten Gründe gäbe, wäre das Untreue. Schmid kam als Verbindungsglied zwischen Finanzminister Löger und den teilstaatlichen Casinos in die Ziehung; Pröll und Rothensteiner saßen dort im Aufsichtsrat. Es gab aber durchaus Argumente, warum ein neuer Casinos-Vorstand nötig war: Unruhe im Unternehmen, der bisherige Chef aus Tschechien galt nicht als besonders beliebt. Geldflüsse des damaligen Casinos-Miteigentümer Novomatic waren damals noch nur in Richtung eines FPÖ-nahen Vereins bekannt.

Erinnerungslücken im U-Ausschuss

Doch anstatt die Ermittlungen abzuwarten, katapultierten Kurz und sein Umfeld die Causa durch die heftigen Angriffe auf die WKStA ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dasselbe geschah rund ein Jahr später, nachdem die WKStA eine Hausdurchsuchung bei Finanzminister Gernot Blümel durchgeführt hatte. Die ständigen Attacken auf die Justiz hielten das Thema nicht nur länger in den Schlagzeilen, als es das wohl sonst gewesen wäre, die Angriffe auf den Rechtsstaat sorgten auch für breite Empörung. Es wurde der Eindruck vermittelt: Die ÖVP hat etwas zu verbergen und schießt deshalb aus allen Rohren. Im Nachhinein sagen auch einige in der Volkspartei, dass das strategisch keine Meisterleistung war. Und: Hat man je von den ebenfalls beschuldigten (Ex-)FPÖ-Politikern Norbert Hofer, Heinz-Christian Strache, Johann Gudenus oder Hubert Fuchs gehört, die WKStA gehöre "reformiert" und zerschlagen? Ähnliches gilt für die Auftritte türkiser Politprominenz im U-Ausschuss.

Anfangs waren sie geprägt von Erinnerungslücken, später dann von Entschlagungen mit Verweis auf laufende Ermittlungen. Besonders stach im Sommer 2020 die Befragung von Finanzminister Gernot Blümel hervor. Auf die Frage nach Spendenangeboten der Novomatic meinte er: "Ich kann für mich ausschließen, dass ich mich erinnern kann, dass das ein Thema war, ja."Hätte Blümel damals angegeben, dass er drei Jahre zuvor eine merkwürdige SMS von Novomatic-Chef Harald Neumann erhalten hatte, wäre ihm viel erspart geblieben. So entdeckte die WKStA in sichergestellten Smartphones, dass Neumann im Juli 2017 an Blümel geschrieben hatte, dass er einen Termin bei Außenminister Kurz brauche. Der darauffolgende Satz hat sich inzwischen eingebrannt: Der Termin sei nötig wegen "erstens Spende zweitens Problemes das wir in Italien haben". Für die Ermittler ein klassisches Quidproquo, also: Die eine Hand wäscht die andere. Es folgte die Hausdurchsuchung bei Blümel.

Die hochnotpeinliche Causa Öbag

Auch Sebastian Kurz und sein Kabinettschef Bernhard Bonelli zeigten sich vor dem U-Ausschuss recht zugeknöpft. Statt den Parlamentariern einen Blick hinter die Kulissen zu geben, antworteten sie auf die Frage nach der Bestellung des Öbag-Aufsichtsrats und von Öbag-Chef Thomas Schmid sehr formalistisch: Den Aufsichtsrat habe Löger bestellt, Schmid dann der Aufsichtsrat. Wieder waren es Chatnachrichten, die zeigten, dass Kurz und Bonelli in die Suche nach Aufsichtsratsmitgliedern involviert waren – und offenbar mit einer Bestellung von Schmid zum Öbag-Alleinvorstand gerechnet haben. Das bescherte beiden Ermittlungen wegen des Verdachts auf Falschaussage: Die WKStA wirft ihnen vor, den Abgeordneten wesentliche Informationen vorenthalten zu haben.

Das Verhalten der ÖVP-Granden könnte damit zu tun haben, dass die Bestellung von Schmid sowie dessen Chatnachrichten hochnotpeinlich waren: Als Generalsekretär im Finanzministerium arbeitete er am Umbau der Staatsholding Öbib zur Öbag mit, während er auf den dortigen Chefsessel schielte. Die Ausschreibung dafür schrieb er mit und versuchte, sie auf sich zuschneiden zu lassen: "Ich bin aber nicht international erfahren." Zu Zeiten der türkis-blauen Regierung schrieb ihm Blümel, er solle sich um seine Zukunft keine Sorgen machen, denn er sei "Familie". Den Verlust seines Diplomatenpasses, weil er zur Öbag wechselte, kommentierte Schmid so: "Reisen wie der Pöbel."

Geschredderte Transparenz

Merkwürdige Vorfälle irritieren die Opposition, aber auch die Grünen, schon seit Ibiza. Als klar war, dass Kurz im Nationalrat das Misstrauen ausgesprochen werden soll, schredderte ein enger Mitarbeiter unter falschem Namen Festplatten aus dem Kanzleramt bei der Firma Reisswolf. Bis heute wird in der Angelegenheit ermittelt – dabei geht es um die Frage, ob tatsächlich Druckerfestplatten vernichtet wurden. Während der Razzia bei Blümel ging seine über die Durchsuchung vorinformierte Lebensgefährtin mit Kind und gemeinsam benutztem Laptop spazieren – zur Polizei brachte den dann Blümels Kabinettschef, der mittlerweile selbst Beschuldigter ist.

Der U-Ausschuss, der im Sommer 2020 seine Arbeit aufnahm, kämpfte von Beginn an um die Lieferung von Akten. Zuerst wollten ÖVP und Grüne die Untersuchungsthemen beschneiden, was aber der Verfassungsgerichtshof (VfGH) ablehnte. Spätestens seit dann hatte die Opposition ständig das Gefühl, die ÖVP würde etwas vertuschen – auch aufgrund der Vorsitzführung durch Wolfgang Sobotka (ÖVP), der schon lange als gestandener Türkiser gelten darf. Und obwohl Sobotka auf verschiedene Weise mit der Novomatic verbunden war, erklärte er sich nicht für befangen. Im Lauf des U-Ausschusses forderten ihn alle anderen Parteien mehrfach auf, sein Amt zurückzulegen – ohne Folgen. Auch rund um die Aktenlieferungen gab es Zwist. Regelmäßig verdächtigte die Opposition türkise Minister, nicht alle notwendigen Informationen geliefert zu haben. Im Jänner 2021 reichte es SPÖ, FPÖ und Neos: Sie riefen den Verfassungsgerichtshof an, um mehr Akten aus dem Finanzministerium zu erhalten.

Die Exekution

Das Höchstgericht entschied schon im März im Sinne der Opposition. Das Finanzministerium bot daraufhin über Wolfgang Peschorn, Präsident der Finanzprokuratur, einen Kompromiss an: Alle Akten würden in einen Datenraum geliefert, dort dann mit vom U-Ausschuss bestimmten Suchbegriffen abgefragt und alle Treffer übermittelt. Die Opposition pochte allerdings auf die vollständige Umsetzung des VfGH-Erkenntnisses, also die komplette Lieferung. Auch in diesem Punkt gab der VfGH der Opposition schließlich recht: Er beauftragte Bundespräsident Alexander Van der Bellen im Mai dieses Jahres mit der Exekution des Urteils. Und plötzlich lieferte das Ministerium an den U-Ausschuss – nämlich sofort: Hunderte Kartons mit Ausdrucken standen noch am selben Tag im Parlament. Laut einer Mitarbeiterin des Finanzministeriums, die für den Vorgang zuständig war, seien die Kartons schon länger im Keller des Ministeriums gebunkert worden – sie sollte aber "Gespräche" zwischen Peschorn und dem Untersuchungsausschuss abwarten. Die eigenen E-Mails wurden von den betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern selbst herausgesucht und die Vollständigkeit der Datenübermittlung per Erklärung versichert. Das Kabinett des Finanzministers klassifizierte dann die Daten per Weisung in Stufe 3, also hoher Geheimhaltung.

Es seien schließlich Gesundheitsdaten und andere sensible Informationen in den E-Mails enthalten. Mit den hunderttausenden ausgedruckten Seiten konnte der U-Ausschuss aber nicht viel anfangen. Allein die Sichtung würde Monate dauern. Bei solchen Datenmengen sind Suchende auf eine digitale Suchfunktion angewiesen, wenn es schnell gehen soll – und das muss es: Am 15. Juli stoppt der Ibiza-U-Ausschuss seine Beweisaufnahme. Einer Verlängerung haben die Regierungsparteien nicht zugestimmt. Ein neuer U-Ausschuss müsste die Akten erneut beantragen. Die Zeit läuft.Schlussendlich hat das Finanzministerium die Daten elektronisch nachgeliefert. Die Opposition sagt: Das ist weiterhin nicht alles. Deshalb beauftragte Van der Bellen am Donnerstag das Straflandesgericht Wien mit der Beschaffung sämtlicher Daten – es ist ein historisch einmaliger Vorgang.In der ÖVP ist man sich sicher: Die Exekution wird nichts Neues zutage bringen. Das Finanzministerium habe alles geliefert, was zu liefern war. Es würden hier doch bloß noch politische Spielchen gespielt. Oder wie es der türkise Generalsekretär Axel Melchior formuliert: "Die Opposition hat sich vereint mit einem einzigen Anliegen: Kurz muss weg."

Türkise Strategien für den Sommer

Manche, auch bei den Grünen, wollen hinter Sätzen wie diesen bereits eine neue türkise Strategie erkennen: Kurz werde als Märtyrer in Stellung gebracht, der von allen Seiten bekämpft wird – womöglich auch schon in Vorbereitung auf einen möglichen Wahlkampf. Wobei zumindest baldige Neuwahlen derzeit eigentlich niemand will.Ganz im Gegenteil, vorerst hofft die ÖVP vor allem auf eines: den Sommer. Am Freitag wurden die Plakate der türkisen Sommerkampagne präsentiert. Man sieht darauf Kurz im Gespräch "mit Menschen", lachende Kinder im Freien, den Kanzler im Hemd ohne Krawatte. "Die Pandemie gemeistert, die Krise bekämpft" steht auf den Sujets einleitend. Und dann Slogans wie: "Gemeinsam nach vorne schauen". In der ÖVP wird begleitend derzeit lautstark betont: "Jetzt haben wir das, was Sebastian Kurz schon vor langer Zeit versprochen hat: einen normalen Sommer."Aber wird das reichen? Sehnen sich die Österreicherinnen und Österreicher wirklich in erster Linie nach Normalität? Sind die Ermittlungen gegen Kanzler und Finanzminister, die Angriffe auf die Justiz, die "ÖVP-Krise" ein Thema für eine informierte Politblase, den meisten Menschen aber ist das alles egal?

Einige Umfragen zeigen derzeit deutliche Verluste für die ÖVP. Generalsekretär Melchior gibt sich diesbezüglich gelassen: In Umfragen, die von der Partei in Auftrag gegeben wurden, liege die ÖVP bei 34 Prozent. Zweiter sei die SPÖ mit großem Abstand. Er gehe davon aus, dass von den Ermittlungen gegen Kurz schlussendlich nichts übrig bleibe. Und überhaupt: "Alle anderen Parteien leiden an Themenarmut."Am 28. August wird die ÖVP ihren Parteitag abhalten, Kurz sich der Wiederwahl stellen. In manchen ÖVP-Kreisen wird sehr wohl gemauschelt, was die Partei tun würde, sollte Kurz – etwa aufgrund einer Verurteilung – tatsächlich gehen müssen. Doch eigentlich ist allen klar: "Der Sebastian" ist derzeit unersetzlich – trotz allem.So hofft die ÖVP auf einen ausgelassenen Sommer, gutes Wetter – und dass sich alles andere schon legen wird. Ein Ass hat man ja auch noch im Ärmel: Rund um den Parteitag soll das Thema Sicherheit größer gespielt werden – und mit "Sicherheit", da ist vor allem "Migration" gemeint. (Fabian Schmid, Katharina Mittelstaedt, 25.6.2021)