Anna Baar macht es ihren Lesern nicht leicht. In ihrem jüngsten Buch gerät alles durcheinander. Den frustrierten Widerspruch hat sie gleich mitgedacht.

Foto: Puch Johannes

Anna Baars Roman Nil gehört zu den rätselhaftesten der ersten Jahreshälfte. Dabei beginnt er ganz simpel: Eine Autorin von Fortsetzungsromanen in einem Frauenmagazin muss ihre Arztgeschichte dort zu einem jähen Ende bringen, denn der Chefredakteur will sie nicht mehr. Wie aber die Geschichte abwürgen? Ab diesem Moment gerät alles aus den Fugen: Figuren, Kausalität, Wahn und Erleben. Kindheitserinnerungen vermischen sich mit – was eigentlich? Visionen? Beobachtungen? Ängsten?

Einfach gesagt, ist es ein Buch über das Schreiben und eine Autorin, deren Leben und Schreiben verschwimmen, einander bedingen, sich eines im anderen wiederfinden. Das verläuft bei Baar aber nicht nur im konventionellen Dreischritt Erleben, Inspiration, Fiktionalisierung, sondern auch in die Gegenrichtung: "Nein, man kann nicht so tun, als sei das Erfundene harmlos. Einst hatte ich den Einfall in mein Album notiert, einen Kübel Wasser vor Emils Haus auszuschütten. Fröre es über Nacht, glitte er darauf aus." Eines Tages im Winter liegt der Briefträger tatsächlich ausgerutscht auf dem Gehsteig. "Wer hätte das vollbracht? Vielleicht mein heimlicher Leser." Die Erfindung ist wahr geworden.

Wer, was, wo, wie, warum?

Genau genommen weiß man aber nicht einmal, ob es sich beim erzählenden Ich – wie hier angenommen – tatsächlich um eine Frau handelt.

Baar, 1973 in Zagreb geboren, ist in Wien und Klagenfurt aufgewachsen und lebt heute ebendort. 2015 erschien ihr Debüt Die Farbe des Granatapfels, nach Als ob sie träumend gingen ist Nil ihr dritter Roman. Erinnerungen spielen stets eine große Rolle in Baars Büchern. Siedelt das erste nah an ihrer eigenen Kindheit, schaut im zweiten ein dementer Mann auf sein Leben. Nun zieht Baar das Geschehen noch weiter aus der physischen Welt ab, überantwortet sie Regeln des Bewusstseins, sprengt damit auch Konventionen des Romangenres. Kausalität? Ein sinnstiftendes Deutungsmuster? I wo!

Hochtourig desorientiert

Diese poetische Absicht zur Desorientierung läuft in diesem Abenteuerroman der anderen Art auf Hochtouren, bald weiß man als Leser gar nichts mehr. Dass sie damit auf Widerstand stoßen kann, weiß Baar. "Was, um Himmels willen, tust du den Lesern an!", schimpft die Mutter der Erzählerin. Man wisse "nicht einmal, wer die Figuren sind", außerdem wollten Leser "Geschichten, bei denen sie mitträumen können, ein bisschen hoffen und bangen bis zum glücklichen Ausgang". Die Autorin hält dagegen: "Wer den Elenden trösten will, muss ihm vom Schmerz erzählen und ihn nur lange genug durch die Finsternis lenken, dass er sein Denken und Fühlen wieder zum Hellen richte."

Eine programmatische Ansage. Schmerz gibt es im Roman jedenfalls genug. Die Mutter der Erzählerin lebt nämlich in der Vergangenheit, als die Familie noch glücklicher war, sitzt allein vor Fotos und Videos, die sie immer wieder abspielt. Im Kampf gegen den Zerfall ihrer Welt hortet sie zudem Dinge, kocht Obst ein, überzieht mit Plastikfolie.

Soziopathischer Querdenker

Auch die Männerfigur Sobek lebt unter prekären Bedingungen. "Keinen Besitz der Welt verteidigt er so vehement wie seine eigene Ansicht. Wer ihn beirren will, wird schnell zum Dummkopf erklärt", zeichnet Baar einen soziopathischen Querdenker, der es als seine Aufgabe sieht, sich über "Politiker, Lobbyisten, listige Medienmagnaten oder finstere Mächte" zu empören. Baar greift aus der poetischen Welt heraus, packt die vielbeschworene toxische Männlichkeit beim Schopf.

Ein Verhör blitzt auf und wird gleich wieder angezweifelt, ebenso Selbstmörder in einer Schottergrube. Nach der Lektüre steht man vor Trümmern. Baar hat sich Mühe gegeben. "Im Schweigen ist weniger Stummsein als in den gängigen Worten", lautet einer der vielen starken Sätze des Bandes, Dekonstruktion hin oder her. "Gängig" ist hier nichts, viel bleibt trotzdem stumm. Öfter zweifelt man abwechselnd an sich und dann wieder an dem Buch. (Michael Wurmitzer, 27.6.2021)