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Der deutschsprachige Hashtag Feminismus verzeichnet auf Tiktok ganze 228 Millionen Aufrufe.

Foto: Reuters / Kiichiro Sato

In Kapuzenpulli und Tennissocken hüpft Megan quer durch ihr Schlafzimmer, zum Sound der Black Eyed Peas landet die 22-Jährige schließlich in den Armen ihrer Freundin. "Ich unterwegs, mir meine nächtlichen Umarmungen abzuholen", ist in dem Kurzvideo zu lesen, darunter prangt der Hashtag #LesbianLove. Clips wie diese finden sich zu Tausenden auf Tiktok, in nur wenigen Sekunden vermitteln Nutzer*innen der Social-Media-Plattform queeren Alltag: Dating-Stress, selbstironische Abrechnungen mit Pärchenklischees, Liebeserklärungen am Palmenstrand. Laut Angaben des Unternehmens nutzen in Europa mittlerweile rund 100 Millionen Menschen die App zumindest einmal pro Monat, die meisten User*innen sind unter 25.

"Ich glaube, dass die App gerade für junge Frauen sehr empowernd sein kann", sagt Pola Nathusius, die den feministischen Podcast "Rose & Crémant" betreibt.

Tiktok sei kein Ort für komplexe feministische Debatten, doch die Plattform punkte mit Gemeinschaftsgefühl. "Es geht darum, die eigene Lebensrealität zu teilen, aber auch zu sehen: Ich bin nicht allein mit dem, was ich erlebe", so die Social-Media-Strategin.

Zwischen Tanz-Challenge und politischer Botschaft

Die rasant wachsende App gilt als Social-Media-Plattform der Generation Z, Tiktok ist ganz auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten: Ohne großen Aufwand können Videos aufgenommen und bearbeitet werden, Filter zaubern in Sekundenschnelle lila Lippenstift oder leuchtende Wangen, auch Musikschnipsel zählen zum Repertoire.

2018 wandelte der chinesische Mutterkonzern Bytedance die boomende Lipsync-App musical.ly in Tiktok um, Tanzvideos sind nach wie vor fester Bestandteil der Tiktok-Welt. Regelmäßig ausgerufene Challenges motivieren Menschen rund um den Globus zum Erlernen einfacher Tanzchoreografien – ein Erfolgsrezept im Corona-Lockdown.

Zwischen den knallbunten Content mischen sich zusehends aber auch politische Inhalte.

Allein der deutschsprachige Hashtag Feminismus verzeichnet ganze 228 Millionen Aufrufe, einzelne User*innen versuchen sich darin, komplexe Inhalte in unterhaltsame Kurzvideos zu packen. So erklärt Journalistin und Historikerin Leonie Schöler als @heeyleonie in beeindruckend hohem Sprechtempo den Sinn geschlechtergerechter Sprache, erzählt von den Stonewall-Riots und Hexenverfolgung.

Weitaus öfter teilen Nutzer*innen aber ihre Erfahrungen mit Alltagssexismus – und das mit einer ordentlichen Portion Sendungsbewusstsein. Was Tiktok dabei ganz wesentlich von anderen Social-Media-Apps unterscheidet, ist der Algorithmus. "Für kleine Accounts ist es auf Instagram praktisch unmöglich, eine große Reichweite zu generieren. Auf Tiktok hingegen können einzelne Videos geradezu explodieren", sagt Expertin Nathusius im STANDARD-Interview. Besonders gut gemachte Inhalte oder Clips, die den Nerv der Zeit treffen, können schnell hunderttausende Abrufe generieren – selbst wenn den Macher*innen nur ein eingeschworener Kreis folgt.

Schadensbegrenzung

Die erhöhte Sichtbarkeit macht indes auch verletzlich. Untergriffige Kommentare, Sexismus und Frauenfeindlichkeit – auf Tiktok wie bei allen Konkurrenzplattformen trister Alltag. Erst kürzlich berichtete das Redaktionsnetzwerk Deutschland von massiven Angriffen auf die Macher*innen des Kanals "Mitreden". Der mit einem Tiktok-Förderprogramm finanzierte Account bietet feministischen und LGBTQI-Content, über 76.000 User*innen folgen seinen Inhalten. Der Erfolg des Kanals rief Hetzer*innen und rechte Trolle auf den Plan: Mittlerweile ausgestiegene Moderatorinnen sahen sich mit Gewaltandrohungen und sexueller Belästigung konfrontiert, auch auf Youtube wurde gezielt gegen die jungen Frauen gehetzt.

Von Tiktok fühlen sich viele Nutzer*innen alleingelassen. Wiederholt stand die lasche Moderationspraxis des chinesischen Konzerns bereits in der Kritik. Anfang Juni kündigte die Berliner NGO Liebe wen du willst e.V. eine Kooperation mit Tiktok auf, da homo- und transfeindliche Inhalte gar nicht oder nur auf Druck hin gelöscht würden – etwa das Video einer brennenden Regenbogenfahne. "Bei Tiktok haben wir uns verpflichtet, die LGBTQ+-Community auf und neben der Plattform zu unterstützen und zu fördern", erklärte das Unternehmen der "Bild"-Zeitung gegenüber – man arbeite an einer sicheren und positiven Erfahrung.

Arbeit wartet dabei zur Genüge auf den Konzern, weiß Netzexpertin Chris Köver. Zwar sei Tiktok aktuell um eine Imagekorrektur bemüht, doch die Praxis sehe häufig anders aus. So betreibe Tiktok etwa sogenanntes Shadow Banning, Hashtags für queere Themen wurden in der Vergangenheit auf Russisch oder Arabisch einfach in der Suche ausgeblendet. "Man gewinnt den Eindruck, dass Tiktok bestimmten Regierungen in vorauseilendem Gehorsam entgegenkommt", sagt Köver, Redakteurin bei netzpolitik.org. 2019 erhielt das Medium Einblick in interne Moderationsregeln, Inhalte von queeren Personen oder Menschen mit Behinderung wurden darin als Mobbingrisiko gelabelt und deren Reichweite beschränkt.

Häufung von Skandalen

Wenige Monate später enthüllte "The Intercept" die Praxis, "hässliche" und arme User*innen in ihrer Sichtbarkeit zu beschränken – dazu zählten etwa fehlende Zähne, Falten oder eine "abnorme" Körperform. "Wir kennen Zensur nach eigenen Moralvorstellungen auch von Facebook und Instagram, diese Achtlosigkeit bei sensiblen Themen hat aber eine neue Dimension", sagt Köver im STANDARD-Gespräch.

Nach der Häufung von Skandalen versuche das Unternehmen nun, sich zu professionalisieren – etwa mithilfe von Beratungsgremien. "Klar ist aber, dass Wachstum auch weiterhin die Top-Priorität des Konzerns ist, alles andere fällt wohl unter Schadensbegrenzung", sagt Köver.

So kämpft Tiktok auch mit dem Thema Jugendschutz, das Unternehmen muss sich bald einer Milliardenklage stellen. Im Namen von Millionen von Kindern reichte die einstige Jugendbeauftragte Englands, Anne Longfield, eine Klage ein, Tiktok soll Daten wie Telefonnummern oder Standort ohne ausreichende Transparenz oder Zustimmung der Eltern gesammelt haben.

Gesehen werden

Auch Pola Nathusius kritisiert die Löschpraxis der beliebten App. Sexistische Beleidigungen würden nicht konsequent genug gelöscht, das enorme Kommentaraufkommen überfordere gerade junge Nutzer*innen. Tatsächlich sind auf Tiktok tausende Kommentare unter einem Video keine Seltenheit – auch in der queerfeministischen Community. Stolz präsentiert Yeet in einem aktuellen Clip ihren Binder, eine straffe Brustbinde, die Brüste möglichst schmerzfrei abflachen soll. 11.000 User*innen haben das Kurzvideo kommentiert, Herzen und einfühlsame Botschaften reihen sich aneinander. Und auch der Schmerz, mit einem verhassten Busen leben zu müssen, wird geteilt. Es sind wohl die stärksten Momente der Plattform. "Bestimmte Lebensrealitäten abzubilden, die sonst wenig Sichtbarkeit haben – diesen Vorteil bietet Tiktok", sagt Nathusius. (Brigitte Theißl, 27.6.2021)