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Große Teile des Hauses in Surfside, Florida, sind zerstört.

Foto: Reuters/OCTAVIO JONES

Noch in der Nacht zum Freitag, sagt Ray Jadallah, hätten Suchtrupps Geräusche in den Trümmern vernommen. "Nicht unbedingt Menschen, die nach uns riefen. Eher klang es so, als würde jemand mit irgendetwas gegen Metall schlagen." In den Trümmern eines eingestürzten Wohnhauses in Surfside, einer Küstenstadt nördlich von Miami Beach, suchen Rettungskräfte mithilfe von Spürhunden nach Überlebenden. Jadallah, der Feuerwehrmann, der den Einsatz leitet, äußert die vorsichtige Hoffnung, dass es gelingen könnte, weitere Menschenleben zu retten, nachdem man am Donnerstag einen zehnjährigen Jungen aus dem Schutt gezogen hatte.

In Surfside waren in der Nacht zum Donnerstag große Teile eines zwölfstöckigen Apartmentkomplexes eingestürzt. Videos, aufgenommen von Überwachungskameras, zeigen ein Gebäude, das in sich zusammensackte, als wäre es kontrolliert gesprengt worden, wie etwa der Kühlturm eines ausrangierten Kraftwerks. Charles Burkett, der Bürgermeister der Stadt, sprach von Szenen, die ihn an den 11. September 2001 erinnerten. An den Tag, an dem die Zwillingstürme in Manhattan in sich zusammenkrachten, nachdem Terroristen entführte Flugzeuge in die Wolkenkratzer gejagt hatten.

Opferzahlen gestiegen

In den ersten Stunden nach dem Unglück hatte Burkett die Opferbilanz zunächst mit einem Toten und zehn Verletzten angegeben. Schon da war allerdings abzusehen, dass sie am Ende deutlich höher ausfallen dürfte. Am Freitagmorgen bestätigten die Behörden den Tod von insgesamt vier Menschen, während 159 weitere als vermisst galten.

Noch immer konnte niemand auch nur mit annähernder Gewissheit sagen, wie viele unter dem Schutt lagen und wie viele einfach noch nicht kontaktiert werden konnten, weder per Telefon noch per E-Mail. In dem Hochhaus mit der Adresse 8777 Collins Avenue, auf einer der Metropole Miami vorgelagerten Insel gelegen, befanden sich 136 Wohnungen. 55 von ihnen gibt es nicht mehr. Viele Opfer dürften von dem Einsturz im Schlaf überrascht worden sein.

Wie ein Erdbeben

Raysa Rodriguez hat überlebt. Gegen halb zwei in der Nacht wurde sie von einem Rütteln geweckt, das sie zunächst an ein Erdbeben denken ließ. Auf ihrem Balkon, schilderte sie im Sender CBS, habe sie im Licht der Straßenlaternen dichte Staubwolken gesehen. "Ich rannte zur Wohnungstür, und als ich die öffnete, war da nichts mehr. Ein ganzer Gebäudeflügel, den es eben noch gegeben hatte, war auf einmal verschwunden." In der Dunkelheit hörte die 59-Jährige die Hilferufe einer Frau: "Bitte helft mir! Lasst mich nicht allein!"

Rodriguez' Apartment liegt in dem Flügel des Hauses, der intakt blieb, während direkt daneben außer einem Schutthaufen nichts übrig blieb von den Champlain Towers South. Weil die Gefahr bestand, dass auch der äußerlich intakte Teil demnächst einstürzen könnte, wurden sämtliche Bewohner evakuiert. Einer von ihnen, der Rechtsanwalt Barry Cohen, beschrieb nächtliche Geräusche wie bei einem Gewitter, wie bei einem sehr lauten Donnerschlag. "Nur hat dieses Donnern nicht mehr aufgehört. Eine Minute lang, schätze ich, ging das so."

Betuchte Lateinamerikaner in Florida

Zu den Vermissten gehören drei Generationen einer Familie, die an einer Trauerfeier teilnehmen wollten. Ebenfalls vermisst wird ein Schönheitschirurg aus Argentinien und dessen Lebensgefährtin. Sie waren nach Florida geflogen, um sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Gesucht wird auch nach der Schwester von Silvana López Moreira, der Frau des Präsidenten von Paraguay, und ihrer Familie. Unauffindbar waren zunächst 27 Staatsangehörige Argentiniens, Chiles, Kolumbiens, Kubas, Paraguays und Puerto Ricos, die in den Champlain Towers Wohnungen gekauft oder gemietet hatten.

Gerade bei betuchten Lateinamerikanern steht Florida hoch im Kurs, und sei es auch nur, um das eigene Vermögen in scheinbar sichere Immobilien zu investieren. Hart getroffen hat es die jüdische Gemeinde, die in Surfside wie überhaupt im Süden des "Sunshine State" stark vertreten ist.

Ursache unbekannt

Was den Einsturz verursachte, dazu gibt es bislang nur Theorien, keine belastbaren Erkenntnisse. Erbaut wurde das Wohnhaus 1981, vermarktet als elegante Residenz in unmittelbarer Strandnähe. Nach den Gesetzen Floridas muss die Statik von Gebäuden alle vierzig Jahre überprüft werden. Stellen Gutachter Mängel fest, sind diese innerhalb kurzer Zeit zu beheben. Ist das nicht möglich, darf ein solches Gebäude nicht mehr bewohnt werden. Nach Angaben eines Juristen, der die Verwaltung der Champlain Towers vertritt, hatten Experten bei einer kürzlich durchgeführten Inspektion sowohl verrosteten Stahl als auch Betonschäden festgestellt. Allerdings, so der Anwalt Kenneth Direktor, sei so etwas bei Häusern am Atlantik, permanent der salzigen Meeresluft ausgesetzt, nichts Ungewöhnliches.

Um die Schäden zu reparieren, waren für die nächsten Monate aufwendige Bauarbeiten geplant. Auch auf dem Dach waren Ausbesserungsarbeiten im Gange, worin der Bürgermeister Burkett jedoch keinen Zusammenhang mit dem Unglück erkennen kann. Generell, gab Burkett in Interviews mit US-Medien zu verstehen, zweifle er daran, dass die Tragödie auf Pfusch am Bau zurückzuführen sei. "Ich glaube, wir werden eines Tages herausfinden, dass in diesem Gebäude etwas sehr Seltsames passierte. Dies sind die Vereinigten Staaten, Häuser fallen hier nicht einfach in sich zusammen."

Unbewiesene These: Tragender Pfeiler entfernt

Nach einer weiteren – ebenfalls unbewiesenen – These könnte beim Umbau eines Apartments ein tragender Pfeiler entfernt oder zumindest beschädigt worden sein. Spekuliert wird schließlich darüber, ob ein poröser, sinkender Untergrund die Ursache gewesen sein könnte. In einer 2020 veröffentlichen Studie hatten Wissenschafter der Florida International University festgestellt, dass der Boden im Küstengebiet von Surfside seit den Neunzigern absinkt, wenn auch nur um wenige Millimeter pro Jahr. Nach den Worten von Shimon Wdowinski, dem Verfasser des Papiers, sei dies allein aber noch kein Grund dafür, dass ein solches Gebäude einstürzt. (Frank Herrmann aus Washington, 25.6.2021)