Es ist an sich nicht ungewöhnlich, wenn bei EU-Gipfeln zuweilen die diplomatische Höflichkeit aufgegeben wird und manche Staats- und Regierungschefs sich verbal mit einer gewissen Härte angehen. Gerade weil es sich um die höchste politische Ebene handelt, steht viel auf dem Spiel, klaffen nationale Interessen oft weit auseinander.

Da wird der eine oder die andere dann schon einmal sehr direkt. Dazu kommt, dass die handelnden Personen in der Regel keine politischen Weicheier sind. Politikerinnen und Politiker, die es in den Mitgliedsländern an die Spitze einer Regierung geschafft haben, sind geeichte Kämpfer. Sie beherrschen alle Tricks. Brüssel sah schon viele EU-Krisengipfel.

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Viktor Orbáns "Spielchen" kennt man seit seinem Amtsantritt 2010. Aber er ist bisher immer davongekommen.
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Was sich zum Ausgang dieser Woche in der EU-Hauptstadt mit und um Viktor Orbán abgespielt hat, war jedoch eine erstaunliche Premiere. Die Konfrontation mit dem ungarischen Premierminister hat einen Punkt erreicht, ab dem klar ist, dass die Gemeinschaft nicht mehr einfach so weitermachen kann, wie sie das mit Ungarn (und auch Polen) und deren Provokationen seit Jahren getan hat: mit Aussitzen.

Orbáns "Spielchen" kennt man seit seinem Amtsantritt 2010. Aber er ist bisher immer davongekommen, indem er eingemahnte oder eingeklagte Gesetzesverstöße korrigiert oder zurückgezogen hat. Mit seinem Gesetz über Informationsverbote zu Homosexualität und Transgender ist er nun aber den sprichwörtlichen einen Schritt zu weit gegangen. Es markiert nicht nur einen Verstoß gegen EU-Recht und die Grundwerte der Union als solche, wie die Kommission aufzeigte. Es ist in seiner Intention eine direkte Kampfansage an alles, was in der liberalen Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union heilig ist.

Eskalation der Worte

Weil das so ist, fiel die Eskalation der Worte beim EU-Gipfel so hitzig wie treffend aus: "Schande", sagte Präsidentin Ursula von der Leyen. Einen Angriff auf die Menschenwürde konstatierte der luxemburgische Premier Xavier Bettel, ein bekennender Homosexueller, der Orbán vor allen anderen ins Gesicht schleuderte: "Ich bin nicht schwul geworden, ich bin es."

Man muss sich diese Szene nur einfach vorstellen, um das ganze Ausmaß der Zerstörung des Vertrauens, der Spaltung in Europa zu begreifen, die Orbán angerichtet hat. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat ausgedrückt, worum es eigentlich geht: "Das ist ein Kampf um Kultur und Zivilisation."

So ist es. Viktor Orbán, der als junger Mann als liberaler Politiker begonnen hat, wie Bettel und Macron oder der Niederländer Mark Rutte, hat das Gesicht verloren. Er hat nicht begriffen, was die Rechts- und Wertegemeinschaft EU im Kern ausmacht. Er ist Antieuropäer.

Dennoch wäre es ein großer Fehler, jetzt den Kopf zu verlieren, gar den EU-Austritt Ungarns anzuregen, wie Rutte das im Zorn getan hat. Ganz im Gegenteil. Orbán ist nicht Ungarn. Die EU und ihre Staaten müssen umso mehr um die Ungarn, um die Bürger dort kämpfen.

Das geht am besten, indem sie entschlossen und mit aller Härte ihr eigenes EU-Recht anwenden. Die Regierung Orbán muss beim Europäischen Gerichtshof geklagt, mit Sanktionen belegt werden. Es müssen EU-Gelder gesperrt werden, wie das in den Verträgen vorgesehen ist. Orbán zu Fall bringen, das müssen die Ungarn selbst erledigen – am besten bei den nächsten Wahlen, wenn sie erkennen, auf welchen Irrweg sie ihr Anführer gebracht hat. (Thomas Mayer, 25.6.2021)