Auf den Spuren von George Balanchine in der Wiener Staatsoper: Noch stört kein "Eindringling" die multiple Figur der diagonal aufgereihten Frauen.

Foto: APA/Balanchine Trust/Staatsoper

Es ist so selbstverständlich, dass man’s meist übersieht: Auf der Bühne werden lebende Bilder gezaubert – bei Theater und Oper ebenso wie beim Tanz. Klar ist natürlich, dass die Performance in der bildenden Kunst darauf abzielt, das Bild zum Ereignis in Form von Live-Situationen zu erweitern. Aber zum Beispiel auch den Tanz als Bild wahrzunehmen, das erfordert eine Art Neujustierung des Blicks. Genau darum geht es in dem neuen dreiteiligen Abend des Wiener Staatsballetts mit dem Titel Tänze Bilder Sinfonien.

Wie erfreulich, abenteuerlich und hintergründig das sein kann, ist jetzt in der Staatsoper anhand von Stücken des neoklassischen Modernen George Balanchine, des russischen Choreografen und Residenzkünstlers des New Yorker American Ballet Theatre Alexei Ratmansky und des Staatsballett-Chefs Martin Schläpfer zu erfahren.

Balanchines Symphony in Three Movements (1972) zur Musik von Igor Strawinsky mutet beim ersten Hinschauen harmlos an. Dieses Ballett kommt ohne Geschichte aus und ist doch keine gefällige Unterhaltung, sondern ein sehr formal anmutender Tanz, dessen psychologisierende Komponente sich erst im Blick des Publikums bildet.

Anfangs formen vor blauem Hintergrund sechzehn exakt gleich in Weiß kostümierte Frauen als "multiple Figur" eine perfekte Diagonale im Bühnenraum. Doch kaum haben sie diese ideale Form aufgelöst, um die innere Komplexität ihrer Einheit zu zeigen, springt ein Mann ins Bild und bringt eine weitere Frau mit. Er ist Schwarz-Weiß gekleidet, sie trägt Pink.

Die Störung erweist sich als Bereicherung: Aus der einen Hinzugekommenen werden drei Frauen unterschiedlichen Alters und in verschiedenen Schattierungen zwischen Pink und Rosa. Vollständig ist das Bild erst, sobald sich unter die sechzehnfache Frau sechzehn weitere Figuren in Schwarz, Schwarz-Weiß und Rosa gemischt haben. Die Dynamik der Choreografie malt einen Tanz aus sich ständig verändernden Verhältnissen. Dabei bilden sich weite Deutungsspielräume und eine visuelle Komposition, die auf ein spektakuläres Schlussbild hinzielt.

Animierte Studie

Wer will, kann dessen Muster wie eine Überleitung zu Alexei Ratmanskys Pictures at an Exhibition (2014) sehen. Getrieben von Alina Bercus beeindruckender Interpretation der gleichnamigen Klaviermusik von Modest Mussorgsky, testen hier fünf Paare ihre sehr unterschiedlichen Beziehungen zu sich selbst und untereinander aus. Das visuelle Hintergrundmuster dazu liefert eine von Wendall K. Harrington videoanimierte Farbstudie des Malers Wassily Kandinsky.

Bei Ratmansky verliert sich die Bewegungsabstraktion, wie sie Balanchine nutzt. Hier werden Individuen mit ihren inneren Konflikten und ihren Arten, miteinander zu kommunizieren, ins Spiel gebracht. Überzogene Hebefiguren deuten auf die unsere Gegenwart prägende übertriebene Zurschaustellung von wirklich allem. Der Choreograf lässt dafür auch einen Mann die russische Hexe Baba Jaga tanzen oder einen Gnom in eine Ballerina fahren.

Radikal subjektiv schließt der Abend mit der Uraufführung von Martin Schläpfers Sinfonie Nr. 15 zu Dmitri Schostakowitschs Fünfzehnter, die Letzte im Katalog des sowjetischen Meisters, die – wie Strawinskis Symphony in Three Movements bei Balanchines Ballett – vom Orchester der Wiener Staatsoper unter Robert Reimer am Premierenabend sehr gelungen gespielt wurde. Thomas Ziegler positioniert die dunkle Ausstattung dieses Stücks zwischen Pierre Soulages und Anselm Kiefer.

Im Morast

Schläpfer ist ein drängender, drückender Tanz geglückt, der Individuen zeigt, wie sie in den Morasten der eigenen Abgründe und ihrer sozialen Umwelt navigieren. In teils spektakulären Manövern versuchen sie, einander zu manipulieren oder gar "umzudrehen". Da geht es weder um Erfolg noch ums Scheitern, sondern vor allem um dieses archaische Gezerre, das uns von jeher zu einem hyperaktiven Auf-der-Stelle-Treten verdammt.

Das Publikum reagierte mit Standing Ovations. (Helmut Ploebst, 27.6.2021)