Alexander Zeldins Ensemble setzt sich aus Amateuren und Profis zusammen: "Faith, Hope and Charity" zeigt sie gemeinsam bei der Chorprobe.

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Regisseur Alexander Zeldin.

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Die treuesten Besucher des vor der Schließung stehenden Gemeindezentrums bleiben unsichtbar. Es sind Großstadtvögel, die im Rauchfang der Armenausspeisung nisten und ab und zu Lärm schlagen. Die Fürsorgestelle liegt irgendwo im kaputtgesparten United Kingdom: ein allerletzter Zufluchtsort, eine Wärmestube für die nach Tausenden zählenden Opfer der britischen Regierungspolitik. Das Motto Letzterer vor wie nach dem Brexit: Klassenkampf von oben.

Das Londoner Sozialdrama Faith, Hope and Charity, ab Donnerstag im Programm der Wiener Festwochen, erspart den Zuschauern kein Detail. Durch das Dach sickert unaufhörlich Regenwasser und bildet Pfützen. Hazel (Llewella Gideon), die Wirtin des Asyls, kocht mit unerschütterlicher Ruhe Stew oder teilt an ihre Schutzsuchenden Biscuits aus.

Die besondere Atmosphäre dieses Zwei-stünders von Autor und Regisseur Alexander Zeldin (36) resultiert aus der Haltung der Beteiligten. Zeldin, ein Wunderkind, das bereits mit 16 Jahren inszeniert hat, verwischt sorgfältig die unsichtbare Linie, die das Geschehen auf der Bühne von den Zuschauern trennt.

Hier, auf der Tourneestation im Pariser Théâtre de l’Europe, wird man ins Geschehen hineingezogen, nicht nur weil das Saallicht brennt, Schauspieler im Parkett Platz nehmen. Man starrt auf dreckige Kantinenfenster, auf unhandliche Tische, auf Drinks und Junkfood. Alles schreit hier unüberhörbar: Skandal.

Auf die Knochen entblößt

Gezeigt werden Menschen, die sozial bis auf die Knochen entblößt sind. Und doch eignet allen – dem stotternden Chorleiter, der sensiblen Rabenmutter, dem jungen Autisten, der sudanesischen Flüchtlingsfrau – eine geradezu heitere Würde. Sie alle stehen im Bann eines liebenden Blicks. So voraussetzungslos wirft den sonst nur der Sozialfilmer Ken Loach aus Newcastle upon Tyne auf die Ärmsten der Armen.

Zeldin, ein freundlicher Zeitgenosse in der Nachfolge von Horváth und Tschechow, beschreibt seine Verfahrensweise im Gespräch als "realistische". Er habe, in London wie in Birmingham, Theater ohne Geld gemacht, in aufgelassenen Kaufhäusern, wo es tüchtig hineinregnete. Er sagt: "Mir ist es wichtig, Realitätsausschnitte zu nehmen, sie zu präparieren und auf die Bühne zu verlagern. Mit dokumentarischem Theater habe ich nicht das Geringste zu tun. Ich suche Formen, die mir einen Eindruck von Lebendigkeit vermitteln, von Kraft und Rohheit."

Früher stellte er mit Studenten Lars-von-Trier-Filme nach. Heute rackert Zeldin, Sohn eines Russen und einer Australierin, an der Seite von Profis und Amateuren. "Die Realität wird in Faith, Hope and Charity nicht dokumentarisch abgebildet. Die Aufführung bildet ein Stück Realität eigenen Rechts. Einige meiner Schauspieler leben exakt in der Situation, die sie darstellen. Einige hatten keine Sekunde Bühnenerfahrung, ehe ich sie kennenlernte. Wieder andere standen auf der Straße oder mit dem Gesetz in Konflikt."

Aus den Abbildungen von Realitätszusammenhängen ist eine Trilogie entstanden: The Inequalities. In Beyond Caring ging es um Zeitarbeiter, und Zeldin war sich nicht zu schade, selbst zu jobben. "Ungleichheit", sagt er, "ist keine politische Kategorie, in Wahrheit dreht sich alles um die existenzielle Verunsicherung tief in uns drin." Nach den Post-Brexit-Zuständen in UK befragt, zuckt er mit den Achseln: "Seit die Tories an der Macht sind, wurden Bibliotheken geschlossen, Theater, buchstäblich alles." Damit sei auch das soziale Verantwortungsgefühl unterdrückt worden.

Aggressive Ansicht

Zeldin: "An einem Ort, an dem man die Infrastruktur systematisch zerstört, entsteht ein besonderes Klima. Rund ein Viertel aller Briten lebt heute unter der Armutsgrenze. Umgekehrt ist das UK noch immer eines der reichsten Länder der Welt. Dem liegt eine äußerst aggressive Anschauung zugrunde, was Gesellschaft ist, wie sie auszusehen hat."

Was er, Zeldin, vom großen Weisen Peter Brook gelernt habe, dem er einmal assistiert hat? Antwort: "Wer oder was ist ein Darsteller? Was macht einen Schauspieler im innersten Kern aus? Die Idee besteht darin, nur mit dem vorhandenen Material zu arbeiten, ohne Regeln, ohne Konzept." Und: "Theater ist die privateste Form, Öffentlichkeit herzustellen." Und dabei sogar die Vögel hörbar zu machen, die unsichtbar im Rauchfang nisten. Es ist wie bei Tschechow. Bloß werden keine Kirschbäume gefällt, sondern es wird ein Asyl geschlossen. (Ronald Pohl, 29.6.2021)